Die unentdeckten Persönlichkeiten, die leider nicht die erste Geige spielen
Stellen Sie sich vor, Ihr Unternehmen wäre ein Orchester. Jede:r Mitarbeiter:in ein Instrument. Einige sind laut und dominant wie die Posaunen, andere eher sanft und zurückhaltend wie die Geigen oder Triangeln. Würden Sie ein Konzert nur mit Posaunen genießen? Oder glauben Sie, dass die Geigen allein das volle Spektrum der Musik darstellen können?
Die Wahrheit ist: Ein erfolgreiches Orchester braucht die Vielfalt der Instrumente – genauso wie ein Unternehmen die Vielfalt der Persönlichkeiten braucht.
Aber wie oft ignorieren wir die leisen und zum Teil zurückhaltenden Geigen und Triangeln in unseren Teams? Wie oft übersehen wir die stillen, introvertierten Kolleginnen und Kollegen, die vielleicht nicht die lautesten im Raum sind, aber dafür tiefgründige und wertvolle Ideen mitbringen? Wie oft verpassen wir die Gelegenheit, die unterschiedlichen Stärken unserer Mitarbeiter: innen wirklich zu nutzen?
Doch auch die Art und Weise, wie Menschen Informationen aufbereitet haben müssen, um diese zu verstehen, kann ein Spektrum an Unterschiedlichkeit mit sich bringen, das es im ersten Schritt zu verstehen gilt. Um erfolgreich zu kommunizieren, benötigt es ein Verständnis des Gegenübers!
So individuell wie unsere DNA ist auch unser Charakter, unsere Persönlichkeit, unsere Art und Weise zu sein, zu denken, zu handeln und zu kommunizieren. Mit dieser Thematik – unterschiedlicher Persönlichkeiten – befasst sich die Psychologie schon seit vielen Jahren. Bereits 1921 veröffentlichte C.G. Jung (ein Schweizer Psychiater, Psychotherapeut und Begründer der analytischen Psychologie) sein Buch „Psychologische Typen“1. Er unterschied im Wesentlichen zwei Bewusstseinseinstellungen:
- Extraversion
- Introversion
Extravertiertheit ist eine Interessenseinstellung gegenüber positiv bewerteten Objekten. Laut C. G. Jung richtet der Extravertierte seine seelisch-geistigen Interessen aufgeschlossen auf die Realität.2 Bei der Extravertiertheit handelt es sich um ein Persönlichkeitsmerkmal. Die Eigenschaften eines extravertierten Menschen umfassen Offenheit, Geselligkeit, Zugewandtheit zur Umwelt, Dominanz, Abenteuerlust, Impulsivität.3
Der introvertierte (von lat. intra »innerhalb« und vertere »wenden«) Persönlichkeitstyp verhält sich „abstrahierend“ (d. h. „sich abhebend“) zum Objekt. Er bringt den Gegenständen seiner Umwelt und Mitwelt kaum Interesse gegenüber und bewältigt sein Dasein, indem er sich abgrenzt, sich entzieht, sich verteidigt und oft verschlossen, scheu und schwer zu durchschauen ist.4
Unter Introversion verstehen wir Eigenschaften und Verhaltensmuster wie etwa, dass introvertierte Menschen zurückhaltend und ausgeglichen sind und sich mit sich alleine beschäftigen. Sie arbeiten gerne alleine oder in kleinen Gruppen und handeln überlegt und konzentriert. Abwechslung und Störungen erleben sie als unangenehm. Bevor sie etwas sagen, überlegen sie lange. Auf andere wirken sie eher reserviert. Introvertiert sein heißt nicht, dass man soziale Ängste hat oder schüchtern ist, wobei natürlich soziale Ängste dazu führen können, dass Menschen den Eindruck erwecken, sie seien introvertiert.5
Neben der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen Extraversion und Introversion, wurden im Laufe der Zeit unterschiedlichste Modelle von Persönlichkeitstypen entwickelt, die zum Teil ein größeres Spektrum abdecken. Um Ihnen einen Überblick und einfachen Einstieg zu ermöglichen, betrachten wir die gängigsten Modelle:
1. Big Five (OCEAN-Modell)
Das Big Five-Modell ist eines der am weitesten anerkannten und wissenschaftlich fundierten Modelle der Persönlichkeitspsychologie. Es beschreibt die Persönlichkeit anhand von fünf Hauptdimensionen:
- Offenheit für Erfahrungen (Openness): Kreativität, Neugier, Interesse an neuen Erfahrungen.
- Gewissenhaftigkeit (Conscientiousness): Sorgfalt, Zuverlässigkeit, Zielstrebigkeit.
- Extraversion (Extraversion): Geselligkeit, Energie, positive Emotionen.
- Verträglichkeit (Agreeableness): Freundlichkeit, Mitgefühl, Kooperationsbereitschaft.
- Neurotizismus (Neuroticism): Emotionale Instabilität, Ängstlichkeit, Reizbarkeit.
Jeder Mensch besitzt alle fünf Dimensionen des Big Five-Modells und jede Dimension wird auf einem Kontinuum gemessen. Das bedeutet, dass eine Person nicht ausschließlich in eine Kategorie passt, sondern auf jeder Dimension einen bestimmten Wert hat. Diese Werte können in hohem, mittlerem oder niedrigem Bereich liegen. Das Modell kann somit einen Großteil der Unterschiede im Verhalten von Menschen erklären.
Kombination der Dimensionen
Jede Person hat einen individuellen Wert auf jeder der fünf Dimensionen, was zu einer einmaligen Persönlichkeitsstruktur führt. Beispielsweise könnte jemand eine hohe Offenheit für Erfahrungen, mittlere Gewissenhaftigkeit, niedrige Extraversion, hohe Verträglichkeit und niedrigen Neurotizismus haben. Diese Kombination beschreibt die individuelle Persönlichkeit dieser Person.
Die Verteilung dieser Dimensionen ist kontinuierlich und nicht dichotom. Das bedeutet, dass es unendlich viele Abstufungen und Kombinationen gibt. Diese kontinuierliche Natur erlaubt es Unternehmen, die Persönlichkeit von Beschäftigten und/oder Bewerberinnen und Bewerbern differenzierter zu betrachten, anstatt sie in starre Kategorien zu unterteilen. In der Praxis werden diese Werte oft durch standardisierte Fragebögen wie den NEO-PI‑R (NEO Personality Inventory-Revised) gemessen, die die Ausprägung auf jeder Dimension quantifizieren.
Weitere Modelle, die zum Teil Anwendung in Unternehmen finden, sind folgende:
2. MBTI (Myers-Briggs Type Indicator)
Der Myers-Briggs Type Indicator klassifiziert Menschen in 16 verschiedene Persönlichkeitstypen basierend auf vier dichotomen Dimensionen:
- Extraversion (E) vs. Introversion (I)
- Sensing (S) vs. Intuition (N)
- Thinking (T) vs. Feeling (F)
- Judging (J) vs. Perceiving ℗
Der MBTI basiert auf den Theorien von Carl Jung und wurde von Isabel Briggs Myers und ihrer Mutter Katharine Cook Briggs entwickelt. Obwohl populär, ist der MBTI in der wissenschaftlichen Gemeinschaft umstritten und wird oft für seine mangelnde empirische Unterstützung kritisiert.
3. DISG-Modell (DISC)
Das DISG-Modell identifiziert vier Hauptverhaltensstile:
- Dominanz (D)
- Initiative (I)
- Stetigkeit (S)
- Gewissenhaftigkeit ©
Das DISG-Modell geht auf die Arbeiten des Psychologen William Marston zurück und wird in der Personalentwicklung und im Coaching häufig eingesetzt, um Kommunikations- und Führungsstile zu verbessern.
4. 16-Persönlichkeiten (16Personalities)
Dieses Modell basiert auf dem MBTI, wurde jedoch modernisiert und weiterentwickelt, um eine zugänglichere und benutzerfreundlichere Version zu bieten. Die 16 Typen werden durch eine Kombination aus den vier dichotomen Dimensionen des MBTI beschrieben.
Im Kontext der Unternehmenskommunikation und Führung von Teams ist die Berücksichtigung unterschiedlicher Persönlichkeitstypen elementar für Effizienz, Innovation und Erfolg. Jedem Typ sollte Raum und Gehör geschenkt werden, denn nicht nur die lauten Personen sind die gewinnbringendsten. Dafür ist es unabdingbar, ein Bewusstsein für Unterschiedlichkeit zu schaffen. Zu wissen, wo Unterschiedlichkeit hilfreich ist und wo es zum Teil Prozesse verlangsamen kann. An der Stelle kommen Unternehmenskultur und ‑werte ins Spiel.
Es geht jedoch nicht darum, vor lauter Diversität den Arbeitsalltag nicht mehr meistern zu können, da uns Individualisierungswünsche an den Rand unzumutbarer Regulatorien und Rücksichtnahmen bringen. Vielmehr geht es darum, in einem angemessenen Rahmen, Toleranz und Möglichkeiten zu erschaffen, die zur Arbeitszufriedenheit und Motivation beitragen und somit positiv auf den Unternehmenserfolg einzahlen.
Um dies zu realisieren, sind hier einige „erste Empfehlungen“ für Sie:
- Fördern Sie Selbstbewusstsein und Verständnis
- Passen Sie Führung und Kommunikation an
- Stellen Sie Teams divers und ausgeglichen zusammen (wo es möglich ist)
- Schaffen Sie eine flexible Arbeitsumgebung
- Etablieren Sie ein konstruktives Konfliktmanagement
- Zeigen Sie Anerkennung und Wertschätzung
Denn am Ende des Tages ist es nicht nur die Musik, die zählt, sondern die Harmonie, mit der sie gespielt wird…
In unserer „Mental Health Week 2024” widmen wir dem Thema „Ein Team, viele Perspektiven – Die Dynamik von Diversität im Team“ einen eigenen Vortrag. Sichern Sie sich und Ihren Beschäftigten jetzt Ihren Platz und erfahren Sie mehr darüber, wie ein wertschätzender Umgang mit Diversität im Team aussehen kann.
1 Jung, C. G. (1921). Psychologische Typen. Rascher Verlag.
2 Stangl, W. (2024). Extraversion – Extravertiertheit. Online Lexikon für Psychologie & Pädagogik. Verfügbar unter https://lexikon.stangl.eu/2011/extravertiertheit-extraversion.
3 Stangl, W. (2024, 1. August). https://lexikon.stangl.eu/2011/extravertiertheit-extraversion.
4 e.b.d.
5 e.b.d.