Psychische Gesundheit von Schüler:innen: Wie ein emotional-kreativer Zugang schwere Themen greifbar macht
„Erschöpft und einsam“ – das ist ein Kernbefund des DAK-Präventionsradars 2024, der bereits seit 2016 das körperliche und psychische Wohlbefinden von Schüler:innen der Klassen 5 bis 10 unter die Lupe nimmt.1 In Zahlen bedeutet das: Über 50 Prozent der Befragten berichten von Erschöpfung, fast ein Drittel von erhöhter Einsamkeit. Der Anteil der Kids und Teens, die pro Woche unter mindestens zwei (psycho)somatischen Beschwerden wie Kopf‑, Rücken- oder Bauchschmerzen sowie Schlafschwierigkeiten leiden, ist in den vergangenen sechs Jahren auf 46 Prozent und damit um ein Viertel gestiegen.
Kein Wunder also, dass uns Schulen schon seit Längerem im Schwerpunkt mit Anfragen kontaktieren, die sich auf Aspekte der mentalen Gesundheit beziehen. Sowohl Lehrkräfte als auch Schulsozialarbeiter:innen sehen tagtäglich Bedarf bei der Förderung des Gefühls- und Stressmanagements, Stärkung der seelischen Widerstandkraft oder Sensibilisierung hinsichtlich ausgewählter psychischer Erkrankungen.
Ein Angebot, das genau darauf einzahlt, ist das Jugendtheaterstück „Brechreiz“, das wir in Kooperation mit dem Spoken Word Theater bereits in 26 Schulklassen umgesetzt haben – oftmals eingebettet in die BKK-Initiative „bauchgefühl“ oder auch einfach als Baustein eines Gesundheitsprogramms der Schule.
Klassenzimmer-Stück „Brechreiz“ – darum geht’s
„Brechreiz” erzählt die Geschichte der 19-jährigen Sophie. Sie kommt gerade aus der Klinik. Diagnose: Bulimie. Geheilt ist sie nicht, stattdessen jagt ein Rückfall den nächsten. Zwischen Sport, Essanfällen, Erbrechen und der Suche nach einem Praktikumsplatz, versucht Sophie irgendwie zu (über)leben. Aber wer versteht sie schon? Und was soll Sophie antworten, wenn die anderen fragen, wie es ihr geht? Alles, was sie denkt, ist: Ich bin dick, verzweifelt, wütend und total unglücklich …
Das 45-minütige Klassenzimmer-Stück liefert tiefe, emotionale Einblicke – und weckt die Fantasie der Zuschauenden. Die Hauptfigur wird von zwei Schauspielerinnen gleichzeitig gespielt. Es stehen also zwei „Sophies“ auf der Bühne, die miteinander interagieren. Auf diese Weise wird der versteckte innere Dialog sichtbar, der so typisch für eine Essstörung ist. Den Schüler:innen (ab Jahrgangsstufe 7) erklären die Künstlerinnen das immer so: „Stell dir vor, du könntest dich mal so richtig schonungslos mit dir selbst ausquatschen – und zwar über all das, was du eigentlich auf gar keinen Fall aussprechen möchtest.“
Eigene Betroffenheit in Kunst umwandeln
Sie merken: Der Autorin und Schauspielerin Marie-Theres Schwinn ist es wichtig, die Sprache der Jugendlichen zu sprechen. In der Vergangenheit selbst von Bulimie betroffen, weiß sie genau, welch belastenden Gedanken und Handlungen mit einer Essstörung einhergehen. Das gilt auch für ihre Sparringspartnerin, die Theatermacherin, Musikerin und Botschafterin der Deutschen Depressionsliga Marie-Luise Gunst.
Ihre Mission: „Neben der künstlerischen Auseinandersetzung wollen wir aus der Innensicht der Erkrankung erzählen, um einerseits Vorurteile abzubauen, aber vor allem auch um zu zeigen, dass es Heilung und schützende Faktoren gibt, die helfen, erst gar nicht in eine Essstörung abzurutschen.“
Eingebettet ist das Theaterstück in ein Warm Up mit gegenseitigem Kennenlernen und erstem Austausch zum Thema. Im Nachgang folgt eine Gesprächsrunde, in der die Schüler:innen stets zahlreiche Fragen platzieren. Außerdem fließen Praxisübungen mit ein, die die Körperwahrnehmung schulen und neue Perspektiven auf die eigenen Stärken und Fähigkeiten ermöglichen.
„Nach fast jeder Veranstaltung kommen betroffene Schülerinnen noch einmal zu uns, um persönliche Fragen zu stellen. Manchmal muss die beste Freundin dabei unterstützend Händchen halten. Immer öfter bitten auch Jungs um Rat. Wir stehen dann nicht nur Rede und Antwort oder geben „Erste Hilfe”-Tipps. Häufig nehmen wir auch in den Arm, trocknen Tränen oder sortieren nach dem Weinen noch mal gemeinsam das Make-up.“
Feedbacks von Teilnehmenden
Förderung der mentalen Gesundheit im Setting Schule – Sonja Trautmann zur Motivation der Pronova BKK
Als BKK sind Sie schon seit vielen Jahren in der schulischen Prävention von Essstörungen aktiv. Warum liegt Ihnen das Thema so am Herzen?
Essstörungen sind ernsthafte und komplexe Erkrankungen, die unbedingt behandelt werden müssen. Und die Entwicklungen zeigen, dass sie bei jungen Menschen zunehmen. Da kann es nur der richtige Weg sein, in die Prävention zu investieren. Der schulische Ansatz holt die jungen Menschen zum einen dort ab, wo sie einen Großteil ihrer Zeit verbringen und zum anderen dort, wo Essstörungen entstehen können. Unter schulischem Leistungsdruck und im Vergleich mit Gleichaltrigen ist es nicht einfach, einen guten Zugang zum eigenen Körper und zum eigenen Essverhalten zu finden.
Laut unserer eigenen Studie „Junge Familien 2023“ macht sich ein Drittel aller Eltern mit Blick auf die digitalen Medien Sorgen hinsichtlich negativer gesundheitlicher Folgen wie Essstörungen. Diese Sorge ist begründet. Das Netz und die sozialen Medien bieten Raum für bedenkliche Inhalte und Vergleiche mit unerreichbaren Idealen.
Das Theaterstück „Brechreiz“ schafft einen emotionalen Zugang zu einer Erkrankung, hinter der der Versuch steckt, mit unangenehmen und belastenden Gefühlen klarzukommen. Aus Ihrer Sicht ein erfolgsversprechender Schlüssel, um die Kids zu erreichen?
Das Theaterstück „Brechreiz“ ist eine spezielle Mischung aus künstlerischen, pädagogischen und therapeutischen Methoden, um mit den Schüler:innen zu diesem sensiblen Thema ins Gespräch zu kommen. Wir haben das Feedback bekommen, dass es besonders gut ankommt, dass die Schauspielerinnen so offen mit ihrer eigenen Erkrankung umgehen und sämtliche Fragen erlaubt sind. Wir wollen damit nicht abschrecken, sondern eine gelebte Offenheit im Kontext Schule schaffen.
Wie sorgen Sie für die Nachhaltigkeit und das Präsenthalten des Themas, wenn die Scheinwerfer aus sind und die Bühne leer ist?
Zum einen unterstützen wir die Lehrkräfte-Fortbildungen „bauchgefühl“ an den Schulen. Lehrpersonen, die Anzeichen von Essstörungen oder anderen psychischen Erkrankungen erkennen können und wissen, wie sie erste Gespräche mit Schüler:innen führen, sind ein guter Schritt, um Probleme rechtzeitig anzugehen. Aus Gesprächen mit Betroffenen wissen wir, dass sie sich gewünscht hätten, von ihren Lehrer:innen angesprochen zu werden.
Zum anderen beschäftigen wir uns auch außerhalb des Settings Schule mit diesem Thema. In unserem Podcast „Jetzt mal ehrlich“ haben wir ein sehr emotionales Gespräch mit einer Betroffenen geführt. Anna erklärt, wie sie in eine Essstörung kombiniert mit Sportsucht reingerutscht ist und wie sie den Weg herausgefunden hat. Hört gerne mal rein.
Herzlichen Dank für das Einbringen Ihrer Erfahrungen, Frau Trautmann!
1Hanewinkel, R., Hansen, J., Neumann, C. (2024). Gesundheit und Gesundheitsverhalten von Kindern und Jugendlichen in Deutschland – Ausgewählte Ergebnisse des Präventionsradars 2023/2024. Kiel: IFT-Nord. Online verfügbar unter: https://caas.content.dak.de/caas/v1/media/77860/data/52da8fbc93cf8d65b021463d306bf470/240812-download-report-praeventionsradar.pdf.
“Brechreiz” ist Teil der BKK-Initiative “bauchgefühl”. Diese setzt auf ein innovatives und zielgerichtetes Angebot, um der Entwicklung von Magersucht, Bulimie und Binge Eating entgegenzuwirken. Besonders die Lebenswelt Schule bietet dafür ideale Voraussetzungen, da sie eine zentrale Rolle dabei spielt, Jugendliche auf die Herausforderungen des Erwachsenenlebens und der Berufswelt vorzubereiten und zu prägen.