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Zukunftsberuf mit Schieflage: Sportlehrer werden in Zeiten von Lehrer- und Bewegungsmangel, Integration und großen Klassen

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Das Institut für Sport- und Bewegungs­wis­sen­schaf­ten (ISBW) der Univer­si­tät Duisburg-Essen bietet im Fach Sport Bachelor- und Master­stu­di­en­gänge für alle Lehrämter an. Der Insti­tuts­di­rek­tor Prof. Dr. Ulf Gebken kriti­siert im Interview Schief­la­gen im System, wo sie nicht hinge­hö­ren (dürfen), den Spagat, den Sport­stu­die­rende deswegen heute machen (können) und warum Bankkauf­leute wie Boxtrai­ner die Lebens­welt Schule berei­chern (sollen).

Wibke Roth:
Herr Prof. Gebgen, „Alters­dia­be­tes“ verdient den Namen nicht mehr. Die Erkran­kung tritt bereits bei Jugend­li­chen auf. Bewegungs­man­gel und natürlich auch falsche Ernäh­rungs­ge­wohn­hei­ten tragen dazu bei. Aktuelle Daten der KiGGS-Studie zeigen, dass mehr als die Hälfte der zwei- bis sechs­jäh­ri­gen Kinder mit Überge­wicht oder Adipo­si­tas auch als Jugend­li­che überge­wich­tig bezie­hungs­weise adipös sind und daher eine frühe Vorbeu­gung notwendig ist. Sie bilden angehende Sport­leh­rer aus. Sollte es nicht zum erzie­he­ri­schen Auftrag der Schule zählen, Schüler (mit) gesund zu halten?

Prof. Gebgen:
Ich glaube schon, dass es wichtig ist, dass man das Gesund­heits­thema zum Schulfach macht. Und je früher man da mit Kindern zu arbeitet, desto besser. Aber das ist gar nicht so einfach, denn Kinder sind ja – in dem Alter – per se gesund. Dennoch: Gesund­heit im Unter­richt bedeutet für mich Ernährung und Bewegung. Und letztere bedeutet laut WHO mindes­tens eine Stunde am Tag.

Wibke Roth:
Was kann Schule da bewegen?

Prof. Gebgen:
Das Konzept der bewegten Schule hat sich bewährt – Unter­richt im Flur, in Englisch und Mathe. Doch dazu braucht es Zeit und kompe­tente Menschen, die das umsetzen. Dazu müsste der Unter­richts­rhyth­mus auf 60 oder 75 Minuten verändert und dann Bewegung hinein­ge­bracht werden. Schleich­dik­tate und Laufdik­tate. Rechen­auf­ga­ben in verschie­de­nen Ecken…

Wibke Roth:
…so wie in Holland?

Prof. Gebgen:
Man muss nicht nach Holland fahren, um gute bewegte Schulen zu finden. Da bin ich jetzt selbst­be­wusst und sage, dass wir da gut aufge­stellt sind. Es gibt Förder­preise. Hierzu­lande wird eine hohe Kultur gelebt. Es ist aber wichtig, dass die Infra­struk­tur der Schule das hergibt. Es muss zum Beispiel eine Spiel­ge­rä­te­aus­leihe geben. Eine Schule, die keine Geräte­aus­leihe hat, leidet darunter, dass die Schüler sich zu wenig bewegen. Der Schulhof muss groß genug sein, es muss Turniere und Wettkämpfe geben, damit sich genug bewegt wird.

Wibke Roth:
Es ist aber nicht nur die Geräte­aus­leihe und das Schul­kon­zept, die für Bewegung sorgen, sondern vor allem die Lehrkraft. So wie vor zehn Jahren MINT-Lehrkräfte zur Stärkung der mathematisch-naturwissenschaftlichen Bildung gesucht wurden, gilt das doch seit vergan­ge­nem Jahr auch für die Schul­fä­cher Sport, Musik und Kunst. Bleiben wir beim Sport und bei der Bewegung. Das Portal und die Kampagne lehrer-werden.de zeigt, wie dringend nach Lehrper­so­nal gesucht wird; nach MINT sind seit vergan­ge­nem Jahr auch die Pforten für Sport‑, Kunst- und Musik-Quereinsteiger geöffnet. Anwärter sollen oder müssen neun Semester Regel­stu­di­en­zeit in den jewei­li­gen Bereichen nachwei­sen. Könnte es sein, dass aufgrund des nachhal­tig hohen Bedarfs zukünftig auch nicht akade­mi­sierte Berufs­grup­pen das Sport-Lehramt ausüben dürfen, also Physio­the­ra­peu­ten, ausge­bil­dete Fitness-Trainer und Reha-Übungsleiter?

Prof. Gebgen:
Ich glaube schon, dass Schulen davon profi­tie­ren, wenn Menschen nicht nur mit einer Biografie „Schulzeit, Studium und wieder Schulzeit“ Lehrer werden. Das ist sogar wegwei­send. Ich habe auch vor meinem Lehramts­stu­dium eine Ausbil­dung gemacht.

Wibke Roth:
Was haben Sie gelernt?

Prof. Gebgen:
Bankkauf­mann.

Wibke Roth:
Was ist denn das eigent­li­che Problem? Die Schul­struk­tur oder der Perso­nal­be­darf?

Prof. Gebgen:
Die Struktur der Schulen – normaler Unter­richt und auch die Ganztags­schu­len – bietet Chancen, dass Sport dort reichlich umgesetzt wird; so wie Boxtrai­ner schul­scharf vom Direktor innerhalb des Schul­pro­gramms einge­setzt werden, wo es beispiels­weise für das jeweilige Umfeld und Integra­tion sinnvoll ist. Und auch Tanzpäd­ago­gen können Tanzen ganz anders trans­por­tie­ren als der durch­ge­tak­tete Klassen­leh­rer.

Wibke Roth:
Ein Klassen­leh­rer, der vor zehn Jahren sein zweites Staats­examen gemacht hat, hat ganz andere Voraus­set­zun­gen vorge­fun­den, als der „grund­stän­dige“ Lehrer heute.

Prof. Gebgen:
Die Neuzu­wan­de­rung von Kindern und Jugend­li­chen ab 2015 hat die Schulen vor neue Heraus­for­de­run­gen gestellt. Ein Schul­di­rek­tor überlegt sich natürlich zweimal, ob er einen fachfrem­den Mathe- oder Deutsch­leh­rer einstellt oder auf fachfremde Sport­leh­rer zurück­greift. Fachfremd heißt, dass diese Menschen nicht das erste oder zweite Staats­examen haben, sondern irgend­wel­che adäquaten Quali­fi­zie­run­gen nachwei­sen können, mit denen der Schul­lei­ter beruhigt schlafen kann. Also vor allem hier im Ruhrge­biet ist es fast schon gängig, dass an Schulen so gearbei­tet wird, damit der Schul­be­trieb aufrecht­erhal­ten bleiben kann. Und ein solcher formaler Quali­fi­zie­rungs­hin­weis ist mittler­weile, dass derjenige Bachelor auf Lehramt mit dem Unter­richts­fach Sport studiert.

Wibke Roth:
Dass Schulen versuchen, bereits Lehramt-Studenten abzuwer­ben, ist neu, oder?

Prof. Gebgen:
Ja. Einer meiner Lehramts­stu­den­ten, Bache­lor­stu­die­ren­der im zweiten Semester, teilte mir mit, dass er meine Vorträge künftig nicht mehr besuchen kann, weil er von nun an 24 Stunden* an einer Schule unter­richte. (Anmerkung der Redaktion: 28 Stunden entspre­chen – je nach Schulform – einem vollen Lehrauf­trag). Erfah­run­gen mit sechs bis sieben Stunden zu sammeln, ist gut und sinnvoll, nicht aber eine 24-Stunden-Stelle, in der sie keinerlei Rückmel­dung erhalten, weil man sie anders als im Referen­da­riat dabei nicht begleitet.

Wibke Roth:
Ihnen ist aber wichtig, dass sie beglei­tend vorbe­rei­tet werden. Warum?

Prof. Gebgen:
Ich finde es wichtig, dass die Studenten während ihrer Ausbil­dung Rückmel­dun­gen und Coaching erhalten – wie beim Referen­da­riat. Und wir hier an der Uni bekommen so natürlich auch Rückmel­dung, wie die Studie­ren­den zurecht­kom­men. Und wenn ich nun mitbe­komme, dass noch nicht ausge­bil­dete junge Lehramts­stu­den­ten ohne dieses Rüstzeug mit den aktuellen Klassen­grö­ßen, mit der Zunahme der Hetero­ge­ni­tät, mit Heraus­for­de­run­gen wie Inklusion und Sprach­för­de­rung, allein zurecht­kom­men müssen, wird mir angst und bange. Das ist schon für gestan­dene Lehrkräfte eine Heraus­for­de­rung. Und besonders Inklusion findet im Sport­un­ter­richt statt. Den wachsen­den Heraus­for­de­run­gen zu begegnen, gelingt durch die zweipha­sige Lehrer­aus­bil­dung ganz gut.

Wibke Roth:
Während des Studiums mussten und müssen Studie­rende aber immer auch Geld verdienen…

Prof. Gebgen:
…bei solchen „Abwer­bun­gen“ Studie­ren­der besteht jetzt aber natürlich die Möglich­keit, dass ihre Verträge im Bereich T8/T9 immer weiter verlän­gert werden und die Studenten ihr Studium gar nicht mehr beenden, weil man damit ja ganz gut leben kann. Der Leitsatz „ein guter Lehrer hat ein erstes und ein zweites Staats­examen“ bröselt.

Wibke Roth:
Weil es eben doch einen Unter­schied zwischen einer Stunde Boxun­ter­richt gibt und dem, wie ein Sport­leh­rer die Schule sonst noch bewegt?

Prof. Gebgen:
Sport und Bewegung sollte nicht nur im Sport­un­ter­richt statt­fin­den. Und dafür sind ausge­bil­dete Lehrer da, dass das im Schul­all­tag integriert wird. Da gehört also auch zu, Bewegung und Sport im Schul­all­tag zu managen und auf den Weg zu bringen und Kinder und Jugend­li­che zu ermäch­ti­gen, Freude am Sport zu haben.

Wibke Roth:
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Prof. Gebgen.

Prof. Gebgen ordnet Zahlen, Unter­richts­aus­fall im Fach Sport und Projekte ein:

  • „Seit Jahrzehn­ten sollen drei Stunden Sport unter­rich­tet werden, es sind aber 2,1 – 2,2 Stunden. Das ist ein Dilemma, das sich nicht lösen lässt.“

  • „Mindes­tens 50 Prozent des Sport­un­ter­richts in Grund­schu­len wird fachfremd erteilt, also von Personen, die nicht als Sport­leh­rer quali­fi­ziert sind, wie Klassen­leh­rer oder Kunst­leh­rer. In den vergan­ge­nen Jahren waren es eher 40 Prozent.“

  • „In den sich auflö­sen­den Förder­schu­len gibt es zu wenig quali­fi­zierte Sport­leh­rer (ca. 40 Prozent), an Sekundar- und Haupt­schu­len etwa 20.“

  • „Eine tägliche Sport­stunde bringt nichts, weil es keine Turnhal­len gibt und weil man den anderen etwas wegnehmen müsste. Statt­des­sen sollte man auch schon den Weg zur Schule den Kindern als Bewegungs­ein­heit mitgeben, so wie

    • mit dem Walking-Bus-Konzept: Der „Walking Bus“ ist ein Schulbus zu Fuß. Eine Vielzahl von Kindern mit erwach­se­nen Beglei­tern treffen sich zu einer bestimm­ten Zeit an einer Walking Bus-Haltestelle, um zusammen den Schulweg anzutre­ten, oder mit
    • Open Sunday: vereins­ferne Kinder der 1. bis 6. Klasse sollen mit diesem offenen und inklu­si­vem Bewegungs­an­ge­bot in die am Wochen­ende leerste­hen­den Sport­in­fra­struk­tur nutzen (open-sunday.info)

Hinter­grund zum Vorbe­rei­tungs­dienst

Lehramts­an­wär­ter gehen heute im vierten Ausbil­dungs­jahr für ein Praxis­se­mes­ter in die Schule. Und im Anschluss an das Studium folgt noch das meist andert­halb­jäh­rige Referen­da­riat – den Vorbe­rei­tungs­dienst. Die Anwärter unter­rich­ten, in den Ländern unter­schied­lich geregelt, selbst­stän­dig bis etwa zum Umfang eines halben Lehrauf­tra­ges und absol­vie­ren zusätz­lich verschie­dene Seminar­ver­an­stal­tun­gen, in denen didak­ti­sche und pädago­gi­sche Kompe­ten­zen erworben werden sollen. Die Eintei­lung ist grund­sätz­lich in Hospi­ta­tion, Ausbil­dungs­un­ter­richt und eigen­stän­di­gen Unter­richt geglie­dert. Künftige Lehrer erhalten von erfah­re­nen Mentoren Rückmel­dung und Rücken­de­ckung. Die wiederum geben die Rückmel­dung auch zur Uni, ob sie dort zurecht­kom­men.
Zudem gibt es auch andere Möglich­kei­ten, durch einen Querein­stieg Unter­richts­lei­ter oder Lehrer zu werden. Infor­ma­tio­nen dazu gibt es auf dem Portal lehrer-werden.de.

Hinter­grund­kas­ten MINT, Sport, Musik und Kunst sowie Quer- und Seiten­ein­stieg

  • Die Voraus­set­zun­gen, lehrend tätig zu werden, ändern sich. Das ist im Prinzip nichts Neues: Schon 2009 veröf­fent­lichte die Kultus­mi­nis­ter­kon­fe­renz KMK ihre „Empfeh­lun­gen zur Stärkung der mathematisch-naturwissenschaftlichen Bildung“ mit Empfeh­lun­gen zur Verbes­se­rung der frühen Förderung des mathematisch-naturwissenschaftlichen Inter­es­ses, zur Erhöhung des Praxis­be­zugs des Unter­richts und zur Gewinnung von Lehrkräf­ten für MINT-Fächer.

  • Seit vergan­ge­nem Jahr können quali­fi­zierte Querein­stei­ger an Grund­schu­len oder weiter­füh­ren­den Schulen mit entspre­chen­den akade­mi­schen Abschlüs­sen die Fächer Musik, Kunst und Sport unter­rich­ten.

  • VERENA ist das Portal für Vertre­tungs­ein­stel­lun­gen nach Angebot, das heißt für Schulen, die Vertre­tungs­per­so­nal suchen. Hier suchen Schulen zum Beispiel auch Vertre­tungs­leh­rer für Sport, die mindes­tens einen Übungs­lei­ter­schein vorweisen müssen, um Sport unter­rich­ten zu dürfen.

  • Quer oder von der Seite einstei­gen? Als Seiten­ein­stei­ger werden laut KMK Lehrkräfte bezeich­net, „…die in der Regel über einen Hochschul­ab­schluss, nicht jedoch über die erste Lehramts­prü­fung verfügen und ohne das Absol­vie­ren des eigent­li­chen Vorbe­rei­tungs­diens­tes in den Schul­dienst einge­stellt werden. Sie erhalten über ihre fachli­chen Kennt­nisse hinaus eine pädago­gi­sche Zusatz­qua­li­fi­ka­tion“; teilweise auch praxis­be­glei­tend. Diese zusätz­li­che Quali­fi­ka­tion wird unter dem Akronym OBAS zusam­men­ge­fasst.

Wibke Roth

Ich heiße Wibke Roth.  Und ich arbeite am liebsten schreibend und schwitzend – in die Tasten hauend und als Fitness-Trainerin. Man könnte auch schreiben: Wenn ich Texte verfasse, erfasse ich die Welt. Wenn ich andere in Bewegung bringe, erlebe ich sie. Meistens bewege ich mich übrigens mit. Ich kann nicht anders. Manchmal gerate ich jedoch auch beim Schreiben ins Schwitzen: je nach Temperatur, Thema und Terminfrist. Wenn mein Sportsgeist außer Atem kommt, haue ich auch gerne einfach `mal ab – in die Berge, ans Meer oder in den Wald. Wenn davon nichts in Sicht ist, haue ich mich einfach aufs Ohr. Das ist sehr gesund und besser als draufloszuhauen – also wild schreiend; dann doch lieber schreibend in die Tasten.

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