Frau Tewes: Sie sind ausgebildete Krankenschwester, Diplom-Psychologin, Pflegewissenschaftlerin und Coach für Führungskräfte. In einem Fernsehbeitrag der ARD – darin ging es darum, ob sich Resilienz erlernen lässt – haben Sie Pflegenden gezeigt, wie Sie mit Ihrer Herzintelligenz selbst dafür sorgen können, dass es ihnen im hektischen und auch emotional aufwühlenden Berufsalltag besser geht. Die Methode, mit der Sie sie trainieren, heißt HeartMath. Wie kam es dazu, dass Sie diese Methode anwenden?
Prof. Renate Tewes: Ich fuhr Anfang 2014 nach Schottland. Auf einem Kongress in Glasgow wurden die Forschungsergebnisse zu HeartMath im Krankenhaus vorgestellt und ich konnte mit den Pflegefachkräften und Ärzten dazu sprechen. Die Ergebnisse beeindruckten mich sehr. Durch die Integration der HeartMath-Übungen verlief der sonst hektische Alltag ruhiger, konzentrierter und empathischer. Patienten wurden bei den Visiten mehr einbezogen und die jungen Ärzte fühlten sich weniger gestresst. Das wirkte sich natürlich auch auf die Pflegenden positiv aus.
Das heißt, grundsätzlich funktioniert die Methode auch ohne die Technik?
Prof. Tewes:
Grundsätzlich handelt es sich dabei um Atem- und Visualisierungsübungen. Das HeartMath-Training verläuft in drei Schritten:
1.) Zunächst wird die Methode geübt. Dazu gibt es eine Vielzahl von Methoden wie Neutral, Quick Coherence oder Heart-Lock In, Freeze Frame…
2.) Der Klient übt diese Methode eine ganze Woche lang und schreibt seine Erfahrungen dazu auf.
3.) Dann werden diese Methoden in den Alltag integriert. Die Übung erfolgt also nicht mehr zusätzlich, sondern während ich etwas mache. Zum Beispiel beim Warten in der Einkaufsschlange, an der Kaffeemaschine, beim Zähneputzen… Damit kann ich bei möglichst vielen Routinetätigkeiten gleich meine HRV* trainieren. Einige funktionieren mit offenen Augen, andere mit geschlossenen Augen. Mit ein bisschen Training gehen einige Übungen auch beim Autofahren und auf jeden Fall, wenn ich im Stau stehe.
Neben dem Einzel-Coaching – die dauern sechs Wochen, mit jeweils einer Sitzung über 1,5 Stunden mit dem HM-Coach – bieten wir Gruppentrainings an. Das sind zwei Trainingstage mit sechs bis acht Wochen Zeitunterschied zum Üben.
Lässt sich die Methode – Sie arbeiten mit Herzfrequenzvariabilität, Herzkohärenz, Atmung und Imagination – in zwei, drei Sätzen erklären?
Prof. Tewes:
In meinen Schulungen verkabele ich die Teilnehmer zunächst. Dann mache ich einen Stresstest. Das funktioniert zum Beispiel sehr gut mit dem Begriff „Finanzamt“. Ich kann bei den Bildern und durch die Verbindung mit dem Sensor sofort sehen, wie der Ausschlag ist. Dann bitte ich die Teilnehmer, Ihre Aufmerksamkeit aufs Herz oder den Brustkorb zu lenken. Dann bitte ich die Teilnehmer beim Einatmen bis fünf zu zählen und beim Ausatmen bis fünf zu zählen. Allein dadurch verändern sich die Linien von zackig in wellig. Die HRV lässt sich als Fähigkeit des Herzens erklären, sich situativ anzupassen bzw. schnell auf Stress zu reagieren und danach wieder zu entspannen. Doch das ist sozusagen die erste Stufe. Dann folgt eine Imagination, bei der es darum geht, ein angenehmes Bild vor dem inneren Auge zu erzeugen.
Es gibt viele HeartMath-Methoden, die zwischen 60 Sekunden (Neutral) bis zu fünf Minuten (Heart-Lock In) dauern. Es geht dabei immer um eine Mischung aus Atmung und Visualisierung. Entscheidend ist dabei, die Vorstellung durch das Herz ein- und auszuatmen.
Auch wenn es komisch klingt, weil man mit dem Atmen ja immer die Lunge verbindet. Diese Visualisierung durch das Herz hat eine wissenschaftliche Bedeutung. Denn rund um das Herz befinden sich die meisten Nervenbahnen, die direkt mit dem Hirn verbunden sind. Bei der Atmung durch das Herz wird die Botschaft von Relaxation also direkt an das Hirn weitergebeben. Von dort werden entsprechende Hormone produziert, die wiederum den Körper entspannen, zum Beispiel mit Oxytocin und DHEA.
Während wir mit der Übung Neutral lediglich den Stressbereich verlassen und in die neutrale Zone gehen, gehen wir mit der Übung Quick Coherence gleich in den Bereich von positiven Emotionen. Das funktioniert mit der Entwicklung von persönlichen inneren Bildern. Welches Bild funktioniert, wird mit dem Biofeedback-Gerät emwave2 dann ausprobiert.
Ähnlich wie beim Yoga und Mediationen ist Regelmäßigkeit wahrscheinlich der Haupterfolgsfaktor, richtig?
Prof. Tewes:
Ja, genau. Teilnehmer müssen anfänglich morgens und abends fünf Minuten lang üben. Dazwischen sollen sie zwei bis drei Mal täglich eine der Übungen machen. Zum Beispiel die Imaginationsübung. Die Heart-Lock In Übung erfolgt nicht nur am Anfang morgens und abends, sondern bleibt sozusagen „lebenslänglich“.
Gibt es wissenschaftliche Erkenntnisse dazu? Sie sprachen im Vorgespräch von einer messbaren Zunahme der Lebenszufriedenheit?
Prof. Tewes:
In meiner Veröffentlichung „Biofeedback und HeartMath-Training“ belege ich, dass durch den regelmäßigen Einsatz der HeartMath-Techniken bei Pflegefachkräften das Erleben von Zeitdruck runter ging. Im Buch „Personalentwicklung in Pflege- und Gesundheitseinrichtungen“, das ich 2014 mit Alfred Stockinger herausgegeben habe, gibt es ein Kapitel von Dr. Sue Smith „Stressmanagement in der britischen Pflege“. Hier stellt sie ihre Forschungsergebnisse aus Schottland vor. Ich finde sehr beeindruckend, dass gestresste Pflegekräfte langjährige Symptome wie Schlafstörungen, Kopfschmerz oder Magenbeschwerden als Folgen des Schichtdienstes innerhalb von nur sechs Wochen auf null reduzierten.
Kann man eine Erkenntnis an einer der HeartMath-Übungen festmachen?
Prof. Tewes:
Ja. Der Cortisolspiegel senkt sich beispielsweise nachweislich bei der Heart-Lock In Übung. Diese Übung senkt den Stresshormonspiegel für die Dauer von bis zu sechs Stunden.
In dem ARD-Beitrag sagt eine Ihrer Trainees, dass sie das am Anfang etwas skeptisch betrachtet habe, seitdem sie damit regelmäßig arbeite, habe sie aber deutlich weniger Stressanzeichen. Zum Beispiel könne sie besser schlafen. Sie nutzt die Methode damit immer wieder in den kurzen Alltagspausen – zum Beispiel, wenn sie eine kurze Toilettenpause einlegt – beim Händewaschen.
Ist das – die Ritualisierung – ähnlich wie beim Yoga eine der Kernpunkte des Konzepts?
Prof. Tewes:
Ja, genau. Ärzte wenden das zum Beispiel beim Händedesinfizieren an. Unsere Teilnehmer können aber auch mit Klebepunkten daheim arbeiten. Es geht dabei darum, jeder Übung eine Farbe zuzuordnen und den Klebepunkt mit der entsprechenden Farbe dort zu platzieren, wo ich diese Übung in den Alltag integrieren kann. Zum Beispiel klebe ich auf den Laptop einen roten Punkt für Quick Coherence, sodass ich beim Hochfahren des Laptops ein bis zwei Minuten atme und mein – funktionierendes – Bild visualisiere. Diese kurzen Interventionen im Tagesverlauf zahlen sich aus und verbessern die HRV signifikant.
Sie sagten, dass die HRV in den USA bereits als wichtiger Voraussagefaktor in der Medizin genutzt wird…
Prof. Tewes:
Ja. In den USA wird die HRV mittlerweile als Prädiktor genutzt, ob jemand eine gute Überlebenschance hat und wie die weitere medizinische Betreuung verläuft.
Von der Einzelperson zur Studienlage:
Fließen alle Trainings in die Erforschung mit ein? Oder läuft die Forschung separat? So oder so: Wie viele Ergebnisse liegen dazu schon vor?
Prof. Tewes:
Es ist von Blase et al belegt, dass die Methode auch bei Depressionen und Posttraumatischer Belastungsstörung hilft. Die sogenannte Bensche-Kurve, die bei Depressionen verwendet wird, zeigt, dass sich die Methode in Verbindung in Zusammenhang mit den üblichen Depressionstherapien hilft, diese um 64 Prozent zu senken. Der Kortisol-Spiegel sinkt dabei um bis zu 25 Prozent. In einer Metastudie von Pizzoli et al mit 721 Teilnehmern wird ebenso gezeigt, dass die HRV hiermit um 45 Prozent verbessert wird.
Dient die Methode, Arbeitslast und Komplexität gesund meistern zu können, präventiv und kurativ?
Prof. Tewes:
Durch regelmäßige Übung – also morgens und abends fünf Minuten Heart-Lock In sowie zwei bis drei Übungen im Tagesverlauf integriert in Routineabläufe wie etwa Zähneputzen – lassen sich die HRV-Werte langfristig verändern und wirken entsprechend positiv auf die Herzleistung. Damit ist HeartMath sowohl präventiv geeignet als auch kurativ. Die meisten Leuten kommen erst, wenn etwas nicht okay ist, weil Prävention oft unsichtbar bleibt. Mit den Biofeedback-Techniken lassen sich die Verbesserungen der Werte – mit dem Kohärenzwert – allerdings sichtbar machen.
Wie kommt es Ihrer Meinung nach gesellschaftlich gesehen dazu, dass wir uns so sehr von unserem Herzen und unseren inneren Ressourcen entfernt haben?
Prof. Tewes:
In unserer Leistungsgesellschaft werden kognitive Entscheidungen (IQ) priorisiert und der emotionalen Arbeit wenig Bedeutung beigemessen. Dabei sind gerade Menschen mit hoher emotionaler Intelligenz (EQ) für den Erfolg von Teams verantwortlich, weil sie Vertrauen und Harmonie schaffen und möglichen Spannungen frühzeitig entgegenwirken. Wer zu einseitig auf kognitive Intelligenz setzt und sein Herz nicht trainiert, gut mit Emotionen umzugehen, belastet das Herz. Mit einem guten Stressmanagement lässt sich auf Dauer auch gute Leistung erzielen. In klinischen Untersuchungen konnte nachgewiesen werden, welch‘ positive Auswirkungen HeartMath auf die Blutwerte hat. Wenn die Übungen mit mehreren Personen gemacht werden, erhöht sich der Kohärenzwert schneller. Deshalb bringen Übungen in der Gruppe viel! Dafür wurde die App Global Coherence entwickelt. Hier können sich Fans von HeartMath online verabreden und gemeinsam praktizieren.
Ich danke Ihnen für das Gespräch, Frau Tewes.
Prof. Tewes: Gern.
Prof. Dr. Renate Tewes ist ausgebildete Krankenschwester, Dipl.-Psychologin, Pflegewissenschaftlerin und Coach für Führungskräfte. 2008 gründete sie die international erfolgreiche Unternehmensberatung Crown Coaching International. Renate Tewes arbeitet unter anderem als HeartMath-Trainerin. 2002 baute Prof. Dr. Renate Tewes den Studiengang Pflegewissenschaft / Pflegemanagement an der EHS Dresden aus. Damit ermöglicht sie Pflegenden im berufsbegleitenden Studium die Qualifizierung für Leitungsaufgaben im Gesundheitswesen. Aufgrund der großen Nachfrage nach Trainings für Führungskompetenz im Gesundheitswesen, reduzierte Prof. Dr. Tewes 2008 die Stelle an der Hochschule und widmet sich seither mit Crown Coaching International dem Coaching, der Beratung und dem Training von Führungskräften im Gesundheitswesen.
Infokasten HeartMath: HeartMath ist eine erprobte Technik, um Herz, Geist und Körper in Einklang zu bringen. Grundsätzlich arbeiten darin ausgebildete Trainerinnen und Trainer mit Menschen in Einzel- und Gruppencoachings. Die Daten werden mit einer App aufgezeichnet und ausgewertet. Kern ist die Herzkohärenz – ein Zustand aktiver Ruhe. Dabei geht es um die Synchronisation der Aktivität von Sympathikus und Parasympathikus. Grundlage dafür bildet die Herzratenvariabilität (HRV). Nutzerinnen und Nutzer des Bluethooth-Senders sehen ausschließlich die HRV-Kurve. Ziel ist, den Zustand innerer Balance und Kohärenz zu erreichen. Wenn die Wellen gleichmäßig verlaufen, ist dieser Zustand erreicht.
*HRV= Herzratenvariabilität