Seit über zehn Jahren verbindet uns eine enge Kooperation mit dem bayerischen Therapienetz Essstörung, das Menschen auf ihrem Weg aus der Magersucht, Bulimie, Binge Eating-Störung oder Adipositas mit einem nachhaltigen und individuellen Beratungs- und Therapieangebot begleitet.
Sei es die fachliche Expertise, die in die Aktualisierung des Unterrichtsprogramms „bauchgefühl“ für die Sekundarstufe 1 einfloss oder die fortlaufende Betreuung der E‑Mail-Beratung auf www.bkk-bauchgefuehl.de: Die Expertinnen und Experten des Therapienetzes unterstützen die BKK-Initiative wo sie nur können. Und sie sind durch ihren Beratungs- und Therapiealltag ganz nah dran an Kindern und Jugendlichen – der Zielgruppe, die besonders gefährdet ist, Belastungen und Sorgen übers Essen oder Nicht-Essen zu kompensieren.
Keine Frage: Wir leben in herausfordernden Zeiten. Was macht das mit den Kids von heute? Dorothea Voß, Dipl. Theologin und Fachtherapeutin für Essstörungen beim Therapienetz in Weilheim und Garmisch-Partenkirchen, lässt uns im Interview mit meiner Kollegin Anika Werner an ihren Beobachtungen teilhaben, welche Ursachen von Essstörungen sich seit 2020 abzeichnen. Außerdem zeigt sie auf, was in puncto Prävention in Familie und Schule jetzt am wichtigsten ist.
Nachgefragt:
Hallo Frau Voß, schön, dass Sie sich heute Zeit für uns nehmen! Von Kinderärzt/-innen und Psycholog/-innen hören wir seit Monaten, dass Essstörungen durch die Corona-Pandemie stark zugenommen haben. Erleben Sie das beim Therapienetz Essstörung auch so?
Monate ist gut, es sind jetzt fast zwei Jahre. Während des ersten Lockdowns und als dieser überstanden war, machten wir uns alle Sorgen und haben gedacht „Was erwartet uns?“. Wir haben mit einer Zunahme der Übergewichtsproblematik gerechnet und auch damit, dass Betroffene Rückfälle erleiden – so ist es auch gekommen. Nicht gerechnet haben wir allerdings damit, von einer Woge neuer essgestörter und vor allem magersüchtiger Mädchen überrollt zu werden. Genau das passierte ab Frühsommer 2020 und hat seitdem nicht mehr aufgehört. Ursächlich hierfür waren und sind Verunsicherung, Einsamkeit und Isolation oder auch Langeweile. Zeitweise nicht mehr zur Schule oder in den Sportverein gehen zu können und dadurch die Freunde nicht mehr zu sehen – das war oft ein Thema. Es traf besonders häufig sportliche Mädchen, deren wichtigste Säule der Sportverein war. Sie sind in der Regel nicht als erstes ins Hungern oder Diäthalten abgedriftet, sondern in die Workouts. Und dann hat sich das ausgeweitet vom Workout und einer sehr bewussten Ernährung hin zu noch mehr Workout und einem noch selektiveren, sehr reduzierten Essverhalten.
Am Anfang haben wir darauf hingearbeitet, den ersten Lockdown und Sommer 2020 zu überstehen und all die Jugendlichen in Therapie zu bringen. Dann kam der zweite Lockdown. Mittlerweile haben wir fast keine magersüchtigen Klient/-innen mehr, die nicht sagen, ihre Probleme gingen wegen Corona und während eines Lockdowns los.
Sind das dann Betroffene, die sich schon vorher im subklinischen Bereich bewegt haben oder auch solche, bei denen es ausschließlich durch Corona problematisch wurde?
Das ist eine gute Frage. Normalerweise gilt, wer in eine Essstörung rutscht, ist instabil – bezogen auf das Selbstwertgefühl, auf die Emotionsregulierung oder auch auf zwischenmenschliche Beziehungen. Seit Corona sehen wir natürlich nach wie vor diejenigen mit dem instabilen Selbstwert oder die, die sich immer schon ein bisschen dick fanden. Andererseits sahen und sehen wir auch komplett gesunde Mädchen, bei denen man denkt: Ohne Corona wäre das nicht passiert. Der Lockdown hat sie aus der Bahn geworfen.
Anhand Ihrer Schilderungen wird deutlich: Die Entstehung einer Essstörung ist sehr komplex. Ist es richtig, dass immer mehrere Belastungsfaktoren zusammenkommen?
Ja. Ein Hauptthema, das zur Magersucht gehört, ist einerseits Isolation, also aus Beziehungen rausfallen, einsam sein. Wer sich so fühlt, findet in der Essstörung oft eine „neue beste Freundin“, die auffängt und wieder eine Aufgabe und ständige Beschäftigung bietet. Das andere Hauptmotiv ist Kontrollverlust und Unsicherheit. Beispiel Corona: Da kommt ein Virus und schmeißt dein Leben komplett durcheinander. Erst denkst du, du kriegst dein altes Leben schnell wieder, aber dem ist größtenteils nicht so. Auch heute ist die Perspektive nach wie vor ungewiss. Jederzeit kann eine neue Variante um die Ecke kommen. Mit welchem Gefühl werden Jugendliche und auch die nachwachsende Generation groß? Ich bin diesbezüglich hochgradig besorgt. Der Ukraine-Krieg löst nun eine ganz ähnliche Dynamik aus.
Bleiben wir noch einen Moment beim Krieg in der Ukraine samt Berichterstattung. Krieg in Europa – Kinder und Jugendliche werden mit einer Situation konfrontiert, die sie so (zum Glück) noch nie erlebt haben.
Absolut. Und diese beiden Krisen, Corona und Ukraine-Krieg, gehen ineinander über beziehungsweise wirken parallel. Nachdem die Kinder und Teenies durch die Pandemie komplett in ihrem strukturgebenden Weltbild erschüttert worden sind, kommt nun noch die Erkenntnis „diese Welt ist gefährlich“ und „mitten in Europa passieren grauenhafte, menschengemachte Dinge“ hinzu.
Und jetzt nochmal zur Magersucht. Das Hauptmotiv für die Magersucht ist Sicherheit und Kontrolle. Früher dominierten private Probleme wie „meine Eltern streiten sich“ oder „meine beste Freundin will nicht mehr mit mir reden“. Heute kommen die großen Themen der Welt on top dazu.
Ist es denn so, dass die Klient/-innen, die zu Ihnen kommen, den Krieg thematisieren?
Als Einflussfaktor auf die Essstörungsentstehung sehen wir das noch nicht. Ich habe direkt gedacht: „Oh nein, das führt zu einer schnellen, weiteren Eskalation.“ Aber dafür ist es eventuell noch zu früh und es wird sich erst mit zeitlicher Verzögerung auswirken.
Pädagog/-innen haben uns berichtet, dass sie bei ihren Schüler/-innen sehr viel Mitgefühl für das Leid der Ukrainer/-innen wahrnehmen. Gleichzeitig sind einige Jugendliche unsicher, ob die eigenen Probleme angesichts des schrecklichen Kriegsgeschehens überhaupt noch eine Berechtigung haben.
Ganz genau! Das ist überhaupt typisch für unser Klientel, vor allem für die Magersüchtigen. Viele fragen sich zum Beispiel: „Darf ich überhaupt diese Beratung in Anspruch nehmen? Andere brauchen es dringender!“ Oder wenn die Klinikanmeldung ansteht: „Mir geht es doch gar nicht schlecht genug.“
Und genau deswegen mache ich mir Sorgen. Die, die zu uns kommen, sind oft hochsensibel, extrem dünnhäutig und haben eine hohe Fähigkeit zur Empathie. Die fühlen Schmerz, Trauer und Angst der anderen mit. Aber genau das ist in dem Fall natürlich die Krux, dass sie dieses unendliche Leid viel zu sehr an sich heranlassen. Und sich selbst im nächsten Schritt abwerten und sich nicht gönnen, was sie eigentlich brauchen.
Was ist aus Ihrer Sicht mit Blick auf die Familie besonders wichtig, um Heranwachsende in diesen herausfordernden Zeiten aufzufangen? Haben Sie da vielleicht sogar konkrete Beispiele aus der Praxis?
Im Grunde fällt mir dazu vor allem das ein: Was Kinder brauchen, sind stabile Eltern, feste Bindung, feste Beziehungen. Die Stabilität war natürlich in den Corona-Hochphasen nicht immer gegeben, weil Eltern oft auch selbst belastet waren. Und Stabilität kannst du nicht mal eben auf Knopfdruck erzeugen. Aber ich denke, was wichtig war und ist, ist Ehrlichkeit. Kinder müssen spüren: „Meinen Eltern geht’s nicht immer gut, aber sie sind ehrlich. Sie bleiben mit mir im Gespräch.“
Zum Glück ist Familie in der Corona-Zeit für die allermeisten unglaublich bedeutungsvoll geworden. Viele Eltern, aber auch Kinder und Jugendliche, haben dies in der Beratung positiv hervorgehoben. Die Familie hat eine zum Teil neue bzw. wiederbelebte Bedeutung bekommen. Viele haben sehr bewusst gemeinsame Zeit gestaltet: Gesellschaftsspiele gespielt, Radtouren oder Wanderungen unternommen und sich als Familie über all das neu entdeckt. Das ist super! Und das ist etwas, was Kinder eigentlich immer brauchen von ihren Eltern, anstatt den Gegenentwurf: Alle gehen ihren Weg und in der Pubertät will ein Kind eh nichts mit den Eltern machen. Das stimmt ja eigentlich gar nicht.
Was Kinder natürlich auch brauchen, sind feste Rituale, eine wiederkehrende Tagesstruktur, verbindliche Zeiten für Schule/Hausaufgaben, Pausen und Freizeit. All das stiftet Sicherheit.
Die modernen Medien möchte ich als weiteren Aspekt aufgreifen. Mittlerweile spielt sich vieles via Blogs und Apps ab. Klar, das Netz bietet auch supergute Sachen und es hat manche/-n aus der Isolation gerettet. Wenn ich allerdings an diese Internetstars mit ihren Workouts denke, in denen vermittelt wird: Du musst jeden Tag mindestens soundso viel Minuten trainieren… Das triggert bei vielen natürlich das zwanghafte Sporteln. Für Eltern hätte ich mir hier ein früheres Bewusstsein für die Gefahren dieses Trends gewünscht. Daher mein Tipp: Schaut euch immer an, was eure Kids im Netz machen. Keine Geheimnisse. Manches findet ihr vielleicht nicht super, aber lasst es die Kinder machen, wenn ihr das Gefühl habt: „Ich finde das jetzt zwar pädagogisch nicht wertvoll, aber es richtet keinen Schaden an.“ Aber bei Zweifeln, dass die Botschaften aus dem Netz Falsches auslösen könnten, solltet ihr unbedingt drüber reden!
Und dann ein letzter Gedanke: Kinder (und natürlich auch Erwachsene) brauchen eine Aufgabe, einen Sinn, eine Beschäftigung. Eine Nicht-Aufgabe bzw. ein Nicht-Sinn machen depressiv und dann haben Süchte leichtes Spiel, weil sie in diese Leere ein „Angebot“ bringen. Eltern, aber auch Pädagog/-innen sollten gemeinsam mit den Kindern überlegen: „Was ist dein Projekt?“ Heranwachsende brauchen etwas, womit sie sich mit Freude beschäftigen können. Das hilft gegen die Ohnmacht und vermittelt das Gefühl von Selbstwirksamkeit.
Die Schule ist ja neben der Familie der zentrale Ort, an dem die Kinder und Jugendlichen sehr viel Zeit verbringen. Welches Potenzial birgt das Präventionsprojekt „bauchgefühl“ aus Ihrer Sicht?
Ich denke, dass das medienkritische Hinterfragen, das sich „bauchgefühl“ ja unter anderem auf die Fahne schreibt, ein großes Thema ist. Ganz aktuell sollten Pädagog/-innen und Schüler/-innen gemeinsam die Sportbeeinflussung im Netz analysieren. Was läuft da eigentlich? Wie süchtig machen die Online-Workouts? Das ist auch und gerade für Jungs interessant. In diesem Kontext muss ich auch das Phänomen „Influencer/-innen“ nochmals nennen. Was ist das eigentlich für ein schreckliches Wort? Beeinflusser/-innen. Wieso suchen sich die Kids Leute, die sie beeinflussen? Ich will doch als junger Mensch nicht beeinflusst werden, ich will selbst bestimmen. Dies sehe ich als Riesenthema für den Unterricht.
„bauchgefühl“ bietet on top ja eine Art „Erste-Hilfe-Training“ zum Umgang mit negativen Emotionen. Das wird bislang oft viel zu spät gemacht. Dabei hat jede und jeder Jugendliche schwierige Gefühle und braucht Ventile. Bevor die Kids problematische, verletzende oder gefährliche Lösungswege beschreiten, ist es wichtig, dass sie früh gute, konstruktive Strategien zur Selbstregulation kennenlernen.
Das Gute an „bauchgefühl“ ist, dass es mit den verschiedenen Themen ein „Rund-um-Paket“ bietet und breit auf die Psychohygiene der Schüler/-innen einzahlt. Darin sehe ich das große Potenzial für die schulische Prävention.
Mein Wunsch für die Zukunft ist, dass „emotionales Selbstmanagement“ und “Sozialverhalten“ zu eigenen Schulfächern werden und mehr Raum und Zeit bekommen.
Liebe Frau Voß, ein riesengroßes DANKESCHÖN für die zahlreichen Einblicke und Impulse, die Sie uns geschenkt haben.
Für die familiäre und schulische Prävention rufen wir als Prämisse aus: „Packen wir’s gemeinsam an!“
Therapienetz Essstörung
www.tness.de
Sie wollen aktiv werden?
Weitere Informationen zur Initative “bauchgefühl” finden Sie hier.
Zudem unterstützt Sie unsere Projektverantwortliche Maja Schrader gern mit einer ausführlichen und persönlichen Beratung zur BKK Initiative “bauchgefühl”.