Das Projekt „Unvergessen – Aktivierung durch Märchen“ der Team Gesundheit GmbH zielt auf die nachhaltige Stärkung der psychosozialen Gesundheit von Bewohnerinnen und Bewohnern in Pflegeeinrichtungen. Hierzu werden im Rahmen des Projektes ressourcenaktivierende Märcheneinheiten genutzt, welche die soziale Teilhabe und damit die Lebensqualität fördern. Sabine Meyer, professionelle Märchenerzählerin und Ausbilderin in diesem Bereich, konnte dabei als Projektpartnerin gewonnen werden.
Team Gesundheit GmbH:
Herzlichen Willkommen bei Team Gesundheit, Frau Meyer. Vorab möchte ich mich ganz herzlich für Ihre Teilnahme an diesem Interview bedanken. Gerne würde ich heute mit Ihnen über Ihre Arbeit als professionelle Märchenerzählerin und über unser gemeinsames Projekt „Unvergessen“ sprechen. Dazu auch direkt meine erste Frage: Wie darf ich mir die Arbeit als professionelle Märchenerzählerin vorstellen?
Sabine Meyer:
Nun, ich bin nicht die, die im Lehnstuhl sitzt und aus einem großen Märchenbuch vorliest. Das Erzählen ist ein Mundwerk, dem das freie Erzählen der Märchen und Geschichten zugrunde liegt. Ich erzähle klassische Märchen, Kunstmärchen, Volksmärchen aus aller Welt, neue Geschichten und vor allem auch viele eigene und oftmals spontan improvisierte Geschichten. Als Erzählerin bin ich so in der Lage, mein Erzählprogramm spontan auf mein Publikum abzustimmen. Und dieses Publikum ist genauso vielfältig wie die Märchen. Ich erzähle für Kinder jeden Alters, aber vor allem für Erwachsene. Ich erzähle bundesweit auf kleinen Kulturbühnen, in Museen, auf der Straße, im Schaufenster, in Höhlen, auf der Brücke mitten im Nirgendwo. Und ich erzähle für Menschen mit Demenz.
Team Gesundheit GmbH:
Welche Effekte erzielen Sie mit Ihrer Märchenarbeit bei den Bewohnerinnen und Bewohnern der Pflegeeinrichtungen und was ist dabei Ihre Zielsetzung?
Sabine Meyer:
Das Erzählen für Menschen mit Demenz war lange Zeit eher unbekannt. Vor zehn Jahren begann ich eher durch Zufall, gerade als ich meine freiberufliche Erzähltätigkeit aufnahm, mit dem Erzählen für Menschen mit Demenz. Im Zuge dessen führte ich das bundesweit erste Forschungsprojekt zu diesem Thema in Osnabrück durch, denn ich stellte mir von Anfang an genau die Fragen, die Sie mir stellen. Was ist anders beim Erzählen für Menschen mit Demenz? Wie muss ich eine Märchenstunde für Menschen mit Demenz aufbauen und vor allem was kann ich damit erreichen? Rasch wurde mir klar, dass sich das Erzählen für Menschen mit Demenz nur wenig von dem Erzählen für andere Menschen unterscheidet, aber es wird von mir in einen anderen Zusammenhang gestellt: Das Erzählen wird mit einer Ressourcenaktivierung gekoppelt. Praktisch muss man sich das so vorstellen, dass wenn ich das bekannte Märchen von Dornröschen erzähle, ich ein Spinnrad, Wolle und diverse andere Requisiten für die Bewohnerinnen und Bewohner mitbringe. Diese können dann ausprobiert werden und so kommen wir mit einer bestimmten Fragetechnik in den Bereich der Aktivierung und Biographiearbeit.
Team Gesundheit GmbH:
Und welches Erlebnis beim Märchenerzählen hat Sie bisher am stärksten berührt?
Sabine Meyer:
Bei dieser Art des Erzählens erlebe ich viele schöne Momente: Menschen, die in ihrer eigenen Welt der Demenz leben, kehren für einen Moment zurück, sind aufmerksam, ruhig, sind aktiv, lachen, singen, erzählen von ihrem Leben und sind mitten drin dabei. Ich könnte ein ganzes Buch darüber schreiben, wie ich Menschen mit Demenz beim Erzählen der für sie sehr bekannten Märchen erlebe. Da ist der Mann mit einer schweren Demenz, der nicht mehr sprechen kann, aber bei meiner Frage, was schwerer ist: die goldene Kugel, die ich mitgebracht habe und in seine Hand legte, oder der weiche Stofffrosch, nach der goldenen Kugel greift und meine Frage so beantwortet. Oder die Dame mit mittlerer Demenz, der der Schuh von Aschenputtel passt, die aber lieber sie selber sein will und keine Prinzessin, denn die sind immer eingebildet. Oder die schwer demente Dame, die gerade mal 55 Jahre alt ist, und zusammengekrümmt im Rollstuhl sitzt. Sie kann sich nicht mehr alleine aufrichten. Beim Erzählen hob sie ihren Kopf und lächelte mir zu. Immer wieder und immer ein Stückchen weiter, bis die Dame sich für einen kurzen Augenblick aufrecht halten konnte.
Team Gesundheit GmbH:
Das ist wirklich beeindruckend. Gibt es dazu wissenschaftliche Untersuchungen bzw. haben Sie Ihre Märchenarbeit wissenschaftlich untersucht?
Sabine Meyer:
Das oben genannte Forschungsprojekt „Märchenstube“ hat diese Effekte wissenschaftlich vorgestellt. Ein Jahr lang habe ich mit einer festen Gruppe in einer Osnabrücker Altenpflegeeinrichtung gearbeitet und Märchen erzählt. Die Effekte waren unglaublich. Die Ergebnisse zum Projekt wurden in der Fachpresse mehrfach veröffentlicht. Und seit 2009 bilde ich bundesweit Betreuungskräfte zum freien Erzählen aus, damit sie die Märchenaktivierungsarbeit weiterführen können. Mittlerweile ist im Bereich der Märchenarbeit für Menschen mit Demenz einiges passiert. War ich 2007 wohl eher ein bunter Hund in diesem Bereich, gibt es heute mehr Erzählerinnen und Erzähler, die sich diesem Thema widmen. 2018 erschien mein Buch “Die Märchenstube – Aktivierung leicht gemacht”, in dem einerseits die Effekte, andererseits aber auch praxisorientiert die Vorgehensweise beschreibe.
Team Gesundheit GmbH:
Würden Sie sagen, dass es bestimmte Erfolgsfaktoren bei Ihrer Märchenarbeit gibt, die ein gutes Gelingen eines Projektes wie „Unvergessen“ fördern?
Sabine Meyer:
In meiner Arbeit habe ich einen hohen Qualitätsanspruch, auch in meinen Weiterbildungen und somit im Projekt „Unvergessen“. Ich muss das freie Erzählen in dieser Arbeit beherrschen, damit ich zeitgleich interagieren und aktivieren kann. Das setzt neben einer erzählerischen Kompetenz auch eine fachlich fundierte Kompetenz im Bereich der Aktivierung und der Begleitung von Menschen mit Demenz voraus. Wenn das gegeben ist, dann lässt der Erfolg nicht lange auf sich warten. Und genau aus diesem Grund bilde ich eben auch aus.
Team Gesundheit GmbH:
Bestandteil unseres Projektes „Unvergessen“ ist u. a. die Schulung der Pflege- bzw. Betreuungskräfte zu professionellen Märchenerzählerinnen und ‑erzählern, die Sie persönlich durchführen. Was erwartet die Pflegekräfte bei Ihrer Ausbildung und welche Effekte durch die Qualifizierung nehmen Sie bei den Mitarbeitenden wahr?
Sabine Meyer:
In der Schulung im Rahmen des Projektes „Unvergessen“ lernen die Betreuungskräfte zunächst einmal das freie Erzählen, das die Grundlage der Märchenarbeit ist. Sie erarbeiten sich aber auch den Ablauf der Märcheneinheiten, mögliche Kombinationen zwischen Märchen, Requisiten und Fragen. Das wird ganz konkret an ausgewählten Märchen zusammengestellt. Zusätzlich vermittle ich darstellerische Kompetenzen, Stimmtraining, Ausdruckstraining usw. Den Abschluss bildet die Ausarbeitung einer eigenen Märchenstunde, unter Umständen auch vor Ort durchführbar. Danach gibt es noch Begleittage, an denen nach einiger Zeit die Umsetzung reflektiert wird. Das ist sinnvoll, um die Betreuungskräfte nachhaltig zu stärken und zu unterstützen, diese sinnvolle Arbeit als langfristige Gruppen- und Einzelangebote in den Einrichtungen anzubieten. In den vielen Schulungen, die ich bereits durchgeführt habe, erkenne ich immer wieder, dass wir alle sehr wohl in der Lage sind, Märchen frei zu erzählen. Mit wenigen Übungen gelingt es, die Erzählkunst für die Märchenarbeit mit Menschen mit Demenz so zu erlernen. Und viele verborgene Talente werden geweckt. So bilden in dem Projekt „Unvergessen“ auch zwei mittlerweile professionelle Erzählerinnen aus, die ich selbst vor einigen Jahren in diesem Bereich geschult habe.
Team Gesundheit GmbH:
Frau Meyer, das Projekt „Unvergessen“ läuft nun schon seit 3 Jahren. Was wünschen Sie sich, wie es damit in Zukunft weitergeht?
Sabine Meyer:
Die drei erfolgreichen Projektjahre waren angefüllt mit märchenhaften Erlebnissen mit den Schulungsteilnehmern, aber auch mit den Bewohnern im Rahmen der Märchenstunden und bei den Begleittage, an denen die Schulungsteilnehmer selber Märchenstunden durchführen. Märchen öffnen Herzen und wir konnten bekannte – aber auch so manche neue – Ressource bei Schulungsteilnehmern und bei Bewohnern wecken. So wünsche ich es mir auch in Zukunft.
Gleichzeitig gewinnt ein solches Schulungsprojekt über die Zeit Profil. Sehr schnell waren zwei Aspekte im Rahmen der Schulungen klar: zum einem der Aspekt mit dem gelernten Wissen schnell in die Praxis gehen zu können und zum anderen der Aspekt der nachhaltigen Umsetzung der Märchenaktivierungsarbeit in die Praxis.
Um die Schulungsteilnehmer von Anfang an, bei der praktischen Umsetzung optimal zu unterstützen, haben wir eine “Märchenschatzkiste” entwickelt. Die Märchenschatzkiste enthält erprobte Aktivierungsmaterialien, Aspekte der Einsatzmöglichkeiten und Liedertext für die Märchen, die in der Schulung intensiv behandelt werden. So fällt der Start in die praktische Umsetzung einfach, denn die Teilnehmer haben schon gleich alles zur Hand. Und die Kiste ist natürlich individuell erweiterbar.
Um die Nachhaltigkeit der praktischen Umsetzung zu unterstützen, wurde die Notwendigkeit von Vertiefungsschulungen deutlich. So haben wir eine Art Baukasten-System für individuelle Vertiefungsschulungen entwickelt. Die Teilnehmer der Vertiefungsschulungen können dabei aus verschiedenen Themenbereiche wählen: Erzählpraxis, Aufbau von Märchenstunden, Märcheninterpretation, Kommunikation mit Menschen mit Demenz, Märchen in der Sterbebegleitung usw.. Zu jeder Vertiefungsschulung gehört eine Reflexion aus der Praxis, Stimm- und Erzähltraining. So können wir unser Erzählerinnen und Erzähler optimal unterstützen, damit diese märchenhafte Aktivierungsmethode nachhaltig eingesetzt werden kann.
Team Gesundheit GmbH:
Zuletzt möchte ich Sie etwas Persönliches fragen: Welches Märchen ist Ihr liebstes und warum?
Sabine Meyer:
Das ist eine Antwort, die leicht zu beantworten ist: Jedes Märchen, das ich erzähle, ist mein Lieblingsmärchen, denn sonst würde ich es nicht erzählen. Eine genaue Titelauflistung kann ich Ihnen dazu aber leider nicht geben, denn mein Repertoire umfasst über 400 Geschichten und Märchen, und täglich werden es mehr.
„In der Fortbildung habe ich einen anderen Blickwinkel auf die Märchen bekommen. Ich habe entdeckt, wie viel Kraft in ihnen liegt und welche inspirierenden Interaktionsmöglichkeiten ich durch das freie Erzählen schaffen kann.“
– Feedback einer Teilnehmerin
„Die Methode ist sehr effektiv und macht obendrein große Freude – sowohl unseren Bewohnerinnen und Bewohnern als auch mir selbst.”
– Feedback einer Teilnehmerin