Denkanstöße aus der Leseabteilung: „Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten“

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Wir sollten darüber nachden­ken, was ein gutes Leben ist und dazu unseren Geist bewegen. Die Richtung gibt uns das schärfste Unter­schei­dungs­merk­mal zu anderen Lebewesen vor: die Moral. Markus Gabriel erklärt mit diesem Werk zu Beginn der Corona-Pandemie, warum Ethik für das Überleben unserer Spezies unver­zicht­bar ist, warum wir mehr als Zwangs­kon­su­men­ten und warum wir WIR-klichkeit sind.

Als Jugend­li­che habe ich in der zehnten Klasse Ethik als Alter­na­tive zu Religion gewählt. Dabei habe ich es als gegeben genommen, dass die Wahl eine Entschei­dung war, im anderen Fach nicht mehr unter­rich­tet zu werden: Wenn A, dann nicht B, sozusagen – oder anders­herum. Dabei ist Ethik diejenige philo­so­phi­sche Teildis­zi­plin, die sich seit ihrer Begriffs­prä­gung durch Platon und Aristo­te­les syste­ma­tisch damit beschäf­tigt, worin ein gutes, gelun­ge­nes Leben besteht. Eine solche Frage ist doch im Prinzip für alle unsere komplexen Lebens­be­rei­che wichtig: für die Schule, die Lehre, die Arbeits­welt, für die Gesell­schaft, für Fragen rund um Künst­li­che Intel­li­genz, Natur­schutz, Gesund­heit und Konsum. Was müssen wir tun, damit es uns auch in Zukunft gut geht?

Ethik: Worin besteht ein gutes und gelun­ge­nes Leben?​
Und um zum Einstiegs­satz zurück­zu­keh­ren: Beim Lesen des Buches „Morali­scher Fortschritt in dunklen Zeiten – univer­sale Werte des 21. Jahrhun­derts“ – wie der Titel vollstän­dig heißt – ist mir klar geworden, dass es für mich zwar ein Glück war, dass ich mich für dieses Fach entschie­den habe: Es war aber aus heutiger Sicht keines­falls logisch, dass es als Alter­na­tive zum Religi­ons­un­ter­richt angeboten wurde, denn A und B können in diesem Fall kein Alter­na­tiv­an­ge­bot sein. Um an dieser Stelle Markus Gabriel – den Autoren dieses Werkes – zu zitieren: „Ethik ist ebenso religiös wie die Logik, Mathe­ma­tik, Biologie, Physik oder Deutsch­un­ter­richt: nämlich gar nicht.“ Das gilt auch für die Philo­so­phie. Gabriel: „(…) sie ist weder automa­tisch religi­ons­kri­tisch noch automa­tisch religi­ons­freund­lich.“ Auf mein Glück, Ethik gewählt zu haben, folgte in der Oberstufe die Wahl der Philo­so­phie – und somit die Liebe zu dem Fach, das sich mit Liebe zur Weisheit wörtlich überset­zen lässt.

Philo­so­phie: Wie lässt sich die Welt und die mensch­li­che Existenz ergründen, deuten und verstehen?
Warum wir in Zeiten wie diesen jedoch genau dieses unser Handeln neu bewerten und verändern müssen und welche Rolle das Unter­richts­fach Ethik dabei spielt, damit wir uns als Menschen moralisch weiter­ent­wi­ckeln können, um uns – grob aus dem Buch zusam­men­ge­fasst – nicht selbst auszu­rot­ten, fasst Gabriel so zusammen: „Sie (die Philosophie/Anm. d. Redaktion) als Alter­na­tive zur Religion nur optional anzubie­ten zeugt von einer syste­misch veran­ker­ten Verach­tung der mensch­li­chen Vernunft in unserem Schul­sys­tem.“

Eine Ode an die Ethik und an die Moral in einem Blog, dessen Leserin­nen und Leser sich vor allem für die Gesund­heit, das Gesund­heits­sys­tem, betrieb­li­ches Gesund­heits­ma­nage­ment oder/und den Menschen und seine Gesund­heit inter­es­sie­ren? Das bedarf ein paar Einord­nun­gen für unser aller Hirnwin­dungs­sha­ker:

Drei Gedanken für den Hirnwin­dungs­sha­ker aus dem Buch „Morali­scher Fortschritt in dunklen Zeiten“
1. Wir nähern uns dem Kern des Titels. Wie lässt sich morali­scher Fortschritt greifen? Was morali­scher Fortschritt ist, lässt sich teils anhand des mensch­li­chen Verhal­tens im Lockdown erklären: Zu dieser Zeit haben wir gemein­schaft­lich als Gesell­schaft anerkannt, dass es moralisch geboten war, Infek­ti­ons­ket­ten zu unter­bre­chen, um andere – besonders Senioren und Kranke – und uns selbst zu schützen.
Wir haben die Moral vor die wirtschaft­li­chen Folgen gestellt und gezeigt, dass wir soziale Wesen sind. Morali­scher Fortschritt, so schreibt Gabriel, setze immer auch eine Einsicht in nicht­mo­ra­li­sche Tatsachen voraus. Zu nicht­mo­ra­li­schen Tatsachen zählten den Erklä­run­gen zufolge Krank­heits­ver­läufe, Statis­ti­ken, die Ausstat­tung des Gesund­heits­sys­tems. Diese müssten wir jedoch zur morali­schen Bewertung unserer Handlungs­op­tio­nen berück­sich­ti­gen. Gabriel: „Die erwähnte Solida­ri­tät hatte eine gesell­schaft­li­che Motiva­ti­ons­lage, die morali­schen Fortschritt zum Ausdruck brachte.“

Ein weiteres Beispiel unseres morali­schen Fortschritts ist histo­risch betrach­tet beispiels­weise die Einfüh­rung des Frauen­wahl­rechts in Deutsch­land im Jahre 1918 oder die Abschaf­fung der Sklaverei (Anm. der Redaktion: Hier ist die Leibei­gen­schaft gemeint, denn moderne Sklaverei gibt es schließ­lich immer noch.). Morali­scher Fortschritt bestünde laut Gabriel in der Erkennt­nis und Aufde­ckung teilweise verbor­ge­ner morali­scher Tatsachen. Das bedeutet unter anderem auch: Wenn es an einer Stelle zu gesell­schaft­li­chem morali­schem Fortschritt kommt, kann es an anderer Stelle auch zu morali­schem Rückschritt kommen. Das aber nur am Rande.

Homo oecono­micus: Warum wird der Mensch heute in der Modell­vor­stel­lung – und somit auch im Sprach­ge­brauch und im gedachten gängigen Menschen­bild – immer noch als ausschließ­lich nach wirtschaft­li­chen Gesichts­punk­ten denkender und handeln­der Mensch beschrie­ben?
2. Wir kommen zum – wie ich finde – wichtigen zweiten Punkt: Wir sind also durchaus soziale Wesen, die – übrigens als einzige Lebewesen auf diesem Planeten – in der Lage sind, uns an einer Moral zu orien­tie­ren, die wir als oberstes Leitziel begreifen. An dieser Stelle gibt es jedoch das Dilemma des – teils gesell­schaft­lich unbewuss­ten oder verbor­ge­nen – Denkens: Das Dilemma, dass der Mensch als homo oecono­micus durchs Leben geht. Das altgrie­chi­sche Wort oikonomia heißt übersetzt: Gesetz des Hauses. Es bezieht sich laut Gabriel ursprüng­lich auf die Rollen­ver­tei­lung in Häusern der antiken Stadt­staa­ten wie Athens, in denen Frauen keine politi­sche Rolle spielten und in denen es auch Sklaven und Leibei­gen­schaf­ten gab. Wirtschafts­wis­sen­schaf­ten, in denen immer wieder das Modell mensch­li­cher Ratio­na­li­tät heran­ge­zo­gen wird, sei laut Gabriel jedoch niemals wertneu­tral: „Der Ökonom wird für seine Forschung entlohnt, und der Ethiker urteilt selbst auf morali­sche Weise, wenn er morali­sche Werte erforscht.“
Das Ding: Was moralisch verwerf­lich ist und was nicht, ist ökono­misch nicht messbar. Das US-amerikanische Gesund­heits­sys­tem, dessen Zutritt sich Millionen armer Menschen nicht verschaf­fen, da sie sich die Kranken­ver­si­che­rung schlicht nicht leisten können, ist da nur ein Beispiel. Zudem wird die Versi­che­rung von den Reichen beherrscht. Die Ressour­cen­ver­tei­lung hat laut Gabriel eindeutig moralisch verwerf­li­che Ausmaße angenom­men, ließe sich jedoch allein mit ökono­mi­schen Kriterien nicht erkennen.

Natürlich haben auch Arbeit­ge­be­rin­nen und Arbeit­ge­ber eine morali­sche Verpflich­tung ihren Mitar­bei­te­rin­nen und Mitar­bei­tern gegenüber. Auch wenn Gabriel nicht auf diesen Aspekt der Moral verweist: Wer sich mit Führung beschäf­tigt, kommt um den Begriff Macht nicht herum. Wer führt, will das Verhalten von Menschen beein­flus­sen. Das Beein­flus­sen von Verhalten kann durch das eigene Verhalten, Einsicht und Konse­quen­zen erfolgen. Die Frage, wie stark Führungs­kräfte in dieser Sache beein­flus­sen, wird in der Literatur über das Konstrukt Macht (und Vertrauen) erfasst.

3. Es lohnt sich, auch einen Blick auf die Arbeits­platz­ge­stal­tung zu werfen: Durch die Pandemie ist – nicht nur – in Deutsch­land ein Vernet­zungs­ruck zwischen Arbeits­plät­zen in Unter­neh­men und im Homeof­fice entstan­den. Das Gefühl zu haben, überall produktiv arbeiten und sich gesund fühlen zu können – sei es im Remote-Office, vor Ort oder in einer Kombi­na­tion als hybrides Arbeits­mo­dell zurzeit sehr gefragt.

Ein hybrides Arbeits­mo­dell zu finden, das für alle Genera­tio­nen funktio­niert, kann jedoch für Arbeit­ge­be­rin­nen und Arbeit­ge­ber eine Heraus­for­de­rung sein. Zum Beispiel allein mit Blick auf die unter­schied­li­chen Genera­tio­nen: Die Genera­tion Y wünscht sich mehr Möglich­kei­ten, persön­lich mit ihren Kollegen zusam­men­zu­ar­bei­ten, als Genera­tion X und die Baby Boomer. Dies steht zwar nicht im Buch, sondern in einem Artikel auf absatzwirtschaft.de. Demnach gebe es einen neuen Arbeitnehmerinnen- und Arbeit­neh­mer­typ, der überall produktiv sein wolle, sozusagen remote. Fragen, die sich Führungs­kräfte heute stellen müssen, lauten: Wie entwickle ich mein Team unabhän­gig vom Standort? Wie kann ich Empathie, Flexi­bi­li­tät und Vertrauen in der Zusam­men­ar­beit stärken?
Gleich­zei­tig ist es wichtig, Arbeit durch die Möglich­kei­ten, die die Technik mit sich bringt, nicht maßlos werden zu lassen. Auch dies ist eine verant­wor­tungs­volle Aufgabe, der sich Arbeit­ge­be­rin­nen und Arbeit­ge­ber heute stellen müssen. Und hier tauchen wir am besten wieder in das Buch und den Denkan­stö­ßen ein:
Gabriel schreibt: „Wir müssen nur erkennen, dass Wohlstand nicht darin besteht, dass wir maßlos arbeiten und nach Konsum­gü­tern streben und dabei einen Burn-out riskieren, gegen den wir mit umwelt­ver­pes­ten­dem Massen­tou­ris­mus angehen. Diese Schleife, die viele Menschen seit Jahren als ‚Hamster­rad‘ erleben, ist kein Wohlstand, sondern ein moralisch und psychisch schlech­tes Leben.“
Ich erinnere mich beim Lesen dieses Werks an einen Auszug aus dem Buch „Die Welt neu denken“ von der Polit­öko­no­min Prof. Dr. Maja Göpel. Sie schreibt darin, dass echte Menschen in den ökono­mi­schen Theorien an den Univer­si­tä­ten dieser Welt genauso wenig vorkämen wie echte Natur. Sie beschreibt und kriti­siert, dass der angehen­den (denkenden) Elite der Welt immer noch ein falsches Modell des Menschen­bil­des – dem homo oecono­micus – unter­brei­tet werde*.

Wenn wir in Zukunft ein falsches, einsei­ti­ges Menschen­bild an das andere reihen – zum Beispiel an das des homo oecono­micus – und sich Wirtschaft, Politik und Zivil­ge­sell­schaft, die sich an solchen Irrtümern ausrich­te­ten – führe dies laut Gabriel dazu, dass „(…) wir in noch nicht absehbare Katastro­phen schlit­tern, gegen welche das Corona-Virus tatsäch­lich nur ein Schnupfen wäre.“ Er schreibt dazu konkret: „Wenn wir am Menschen­bild des Zwangs­kon­su­men­ten festhal­ten, kann sich das Axiom „Wachstum erzeugt materi­el­len Wohlstand, nichts anderes wollen die Menschen“ nicht ändern. Die Folgen für Mensch und Umwelt sind bekannt.“

Fazit
Gabriel fordert nicht nur, dass Ethik alter­na­tiv­los zum Religi­ons­un­ter­richt angeboten wird, er fordert ebenso, dass sich Univer­si­tä­ten mit Blick auf die großen Heraus­for­de­run­gen des 21. Jahrhun­derts mit ihren Diszi­pli­nen zusam­men­tun müssen, ohne die philo­so­phi­sche Ethik von anderen wissen­schaft­li­chen Erkennt­nis­sen zu isolieren. All das müsse „im Sinne einer neuen Aufklä­rung“ geschehen. Er schreibt, dass Geist und höhere Moralität möglich sind: „Wir sind „WIR-klichkeit“.“ Es gebe kein Anderswo. Moralisch verwerf­li­ches Handeln müsse unsere Spezies zugunsten einer höheren Moral verändern.

Gabriel: „Ziel und Sinn des mensch­li­chen Lebens ist das gute Leben. Das gute Leben besteht darin, dass wir uns zu verant­wor­tungs­vol­len Akteuren im Reich der Zwecke machen und uns als Lebewesen begreifen, die zu höherer, univer­sa­ler Moralität fähig sind. Ein solches Menschen­bild ist die Grundlage aller Aufklä­rung, die in verschie­de­nen Schüben auf allen Erdteilen zu verschie­de­nen Zeiten statt­ge­fun­den hat. Heute ist Aufklä­rung angesichts der dunklen Zeiten, in denen wir uns befinden, so dringend nötig wie lange nicht.“

Ich empfehle Ihnen dieses Buch als Must-Have im Leseses­sel, denn es macht letzt­end­lich Mut, weil es zeigt, dass es immer noch an uns ist, aufzu­de­cken, was wir durch falsches Denken selbst verpfuscht haben, um es dann anders zu denken und es jenseits vorhan­de­ner Muster und Systeme auch anders zu machen.

Verlag: Ullstein Hardcover
Wissen & Werte Gesell­schaft Populäre Philo­so­phie
368 Seiten
ISBN: 9783550081941
Erschie­nen: 03.08.2020

Wibke Roth

Ich heiße Wibke Roth.  Und ich arbeite am liebsten schreibend und schwitzend – in die Tasten hauend und als Fitness-Trainerin. Man könnte auch schreiben: Wenn ich Texte verfasse, erfasse ich die Welt. Wenn ich andere in Bewegung bringe, erlebe ich sie. Meistens bewege ich mich übrigens mit. Ich kann nicht anders. Manchmal gerate ich jedoch auch beim Schreiben ins Schwitzen: je nach Temperatur, Thema und Terminfrist. Wenn mein Sportsgeist außer Atem kommt, haue ich auch gerne einfach `mal ab – in die Berge, ans Meer oder in den Wald. Wenn davon nichts in Sicht ist, haue ich mich einfach aufs Ohr. Das ist sehr gesund und besser als draufloszuhauen – also wild schreiend; dann doch lieber schreibend in die Tasten.

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