Diäten sind die Einstiegsdroge in eine Essstörung. Ihre Namen kennt jeder: Magersucht und Bulimie, zum Beispiel. Wer etwa um sein normales Gewicht kämpfen muss, um nicht wieder todschlank zu werden, kämpft mit einer Essstörung; so auch die 37-jährige Stephanie. In dem Buch „Warum seh‘ ich nicht so aus? Fernsehen im Kontext von Essstörungen“ findet sie klare Worte: „Es fing alles mit einer Diät an. Ich war 15 Jahre alt und übergewichtig. Damals wurde Werbung für Slim-Fast gemacht und wie toll und einfach man zu einem Traumgewicht kommt. Selbst Videofilme konnte man von diesem Produkt käuflich erwerben, mit Sporteinheiten. Als ich es ausprobierte, purzelten die Pfunde – aber es musste noch mehr runter. Ich wollte aussehen wie die schönen Frauen in den Medien. Dadurch rutschte ich in die Bulimie und in die Magersucht.“ Etliche Klinikaufenthalte seien gefolgt; ihr tiefstes Gewicht habe sie mit 35 Jahren erreicht: Auf die 27 Kilogramm folgten dann wieder Klinik und ein Aufenthalt in einer intensiv therapeutisch betreuten Wohngruppe bei der ANAD e.V. in München. Jetzt habe sie fast ein normales Gewicht, aber jeder Tag sei ein Kampf – auch mit Rückschlägen.
Das Problem mit Essstörungen in der Pubertät: „Dann ist man irgendwann die Essstörung.“
Stephanie hat sich zu einer Zeit ‘ran an den Speck gemacht, wenn das Verhalten besonders langfristige Auswirkungen haben kann, denn eine Essstörung wirkt über einen längeren Zeitraum identitätsstiftend.
Liane Hammer ist Diplom-Pädagogin sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin unter anderem bei ANAD e.V. – eine der wichtigsten Anlaufstellen im Land, wenn es um Essstörungen geht. „Die Pubertät ist per se eine Zeit der Verunsicherung. Man vergleicht sich sehr schnell und sucht nach Kontrolle, Einordnung und Bestätigung. Das geht über die sozialen Medien natürlich noch mehr als früher, als es nur das Fernsehen gab“, sagt sie. Und ergänzt: „Dann ist man irgendwann die Essstörung. Alles andere gerät in den Hintergrund – oder versetzt ihn wie in einen grauen Schleier.“ Die Essstörung werde so zum Lebensinhalt und treibe Betroffene schlimmstenfalls sogar an, denn sie diszipliniert, gibt Kontrolle und treibt an, Leistung aufrechtzuerhalten.“
Die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper und Germany‘s Next Topmodel
Essstörungen sind psychosomatischer Natur und zählen zu den häufigsten psychosomatischen Erkrankungen von Mädchen und jungen Frauen, sind aber auch von so genannten gesellschaftlichen Faktoren geprägt. Die setzen Normen, Werte und setzen den Rahmen fürs Zusammenleben. Medien durchziehen dabei nach Anad-Angaben unsere Kultur auf diversen Ebenen: Der Medienkonsum steigt: Es wird Fernsehen geguckt, im Internet gesurft und sich auf Social-Plattformen ausgetauscht. Fernsehinhalte wie Germany‘s Next Topmodel bieten den Content für die gesamte Reise durch die sozialen Medien – und Werte werden explizit und implizit vermittelt. Das Erschreckende: Mit Beginn der Serie im Jahr 2006 hat laut Anad mit Bezug auf die Dr. Sommer-Studie die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper bei Mädchen deutlich zugenommen.
- 2006: 69 Prozent der 16- bis 17-jährigen Mädchen waren mit ihrem Gewicht zufrieden.
- 2009: 48 Prozent der Mädchen waren mit ihrem Gewicht zufrieden.
- Die Körperzufriedenheit blieb bei den Jungen unverändert.
Liane Hammer beschreibt einen typischen Glaubenssatz ihrer Klienten, der vor allem die Lebensfreude, die ja auch mit Essen einhergeht, in den Schatten stellt: „Nur wenn ich zu 100 Prozent mit meinem Körper zufrieden bin, geht es mir gut.“
Risikofaktor Social Media: Instagram
Apropos 100 Prozent: Der Optimierungswahn einer Leistungsgesellschaft, perfekt inszenierte Bilder von Essen und Körpern bergen natürlich auch Risiken für Essstörungen: „Wenn ich nichts mehr auf dieser Welt kontrollieren und optimieren kann, dann wenigstens meinen Körper“, ergänzt sie. Die Studien der MaLisa Stiftung haben zur „Weiblichen Selbstinszenierung in den neuen Medien“ unter anderem die Top 100 der deutschen Instagram-Influencer untersucht. Zwei wichtige Erkenntnisse:
- Ganz wichtig ist es den Mädchen, dass sie schlank sind. Während Mädchen, die laut Studie keinen Influencerinnen folgen, immerhin nur 38 Prozent sagen, dass ihnen ein schlanker Körper „sehr wichtig” sei, sind es bei denen, die einer Influencerin folgen, schon 63 Prozent.
- Frauen, die ihre Fotos per Photoshop aufhübschen, ziehen sich ein Publikum heran, dass auch glaubt, sich optimieren zu müssen.
In ihren Therapien diskutiert Hammer daher auch mit ihren Patienten
- wie ihr Social-Media-Verhalten ist,
- welche Bilder sie sich angucken und warum
- ob es nicht sinnvoller wäre, den Account zu löschen.
Im Report wird diese Studie wie folgt erklärt:
„Wie Mädchen ihre Posts auf Instagram gestalten und was ihnen dabei wichtig ist, wurde anhand von sieben Einzelfallstudien untersucht. Im zweiten Schritt wurden 300 Posts von erfolgreichen Influencerinnen auf wiederkehrende Muster hin untersucht. Anschließend wurden 300 Bilder von Influencerinnen mit 300 Bildern der Mädchen aus den Fallstudien verglichen. In einer repräsentativen Rezeptionsstudie wurden Jugendliche zwischen 12 und 19 Jahren (Stichprobe n=846, davon 404 Mädchen) zu ausgewählten Erkenntnissen aus den Einzelfallstudien befragt.“
„Ich gehe laufen, damit ich abends etwas essen kann.“
Wo handelt es sich eigentlich um schräges Essverhalten – im Sinne von gesellschaftlich „normal“ akzeptiertem – aber noch nicht diagnostizierter Essstörung? Hammer nennt dazu Beispiele für einschränkendes, fachlich korrekt „restriktives“, Essen wie
- mittags nicht zu essen, wenn es abends noch den Braten gibt.
- Laufen zu gehen, damit man abends noch etwas essen kann.
Viele Menschen, die ein gestörtes Essverhalten haben, fallen trotz ihrer Symptome nicht in eine der drei Kategorien Magersucht, Bulimie oder Binge-Eating-Störung, bei der nach dem Essanfall mit Kontrollverlust keine gewichtsregulierenden Handlungen folgen. Das bedeutet jedoch im Umkehrschluss nicht, dass sie nicht unter einer Essstörung leiden könnten. Denn etwa die Hälfte der Menschen mit einer Essstörung passen nach ANAD-Angaben nicht in eine dieser Kategorien und werden der Kategorie „atypische Essstörungen“ zugewiesen. Darüber hinaus beobachtet man weitere Formen gestörten Essverhaltens, die eher eine Beschreibung von Symptomen sind, aber keine eigene Essstörungsdiagnose darstellen. Hammer ergänzt: „Da mit Risiken behaftetes Essverhalten mittlerweile ein gesellschaftliches Phänomen ist, sollen die Kriterien für Essstörungen geändert werden. Binge Eating zum Beispiel ist noch nicht im ICD 10, soll aber in den ICD 11 aufgenommen werden: „Nicht, weil man mehr „krank machen“ will, sondern so eher Hilfe anbieten kann“, konstatiert sie.
Über ANAD e.V. Versorgungszentrum Essstörungen 1984 wurde ANAD e.V. (Anorexia Nervosa and Associated Disorders) als Selbsthilfeorganisation gemeinsam von Barbara Schindler und Diplom-Psychologen Andreas Schnebel ins Leben gerufen. ANAD e.V. hat sich im Laufe der Jahre zu einer der wichtigsten Anlaufstellen zum Thema Essstörungen entwickelt. Heute bietet der Verein die professionelle Hilfe durch ein interdisziplinäres Team aus Diplom-PsychologInnen, Diplom-SozialpädagogInnen und Diplom-OecotrophologInnen an. Zum ANAD-Konzept zählen neben einer kostenfreien Online-Beratung (www.anad-dialog.de) auch die intensivtherapeutisch betreuten Wohngruppen für Menschen mit einer Essstörung.