„Märchen erzählen“ für Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeeinrichtungen – klingt im ersten Moment – das gebe ich ehrlich zu – etwas irritierend. Sollte man unsere geschätzten älteren Mitmenschen nicht ernst nehmen und altersgerechte Angebote zugutekommen lassen?
Ausgezeichnetes Projekt
Wie gesagt, im ersten Moment. Nachdem mir meine Kollegin Sina Sander das Projekt dann genau vorgestellt hat, war ich tief beeindruckt von dieser schönen Idee. Jetzt ist dieses Projekt auch noch ausgezeichnet worden, vom Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen. Als beispielhaftes Projekt Landesinitiative Gesundes Land. Das macht uns wirklich stolz. Was genau ist also „Unvergessen – Aktivierung durch Märchen“ und welchen Mehrwert hat es für Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeeinrichtungen?
Unvergessene Momente und Biographiearbeit
Es war einmal im Jahr 2017, als meine Kolleginnen und Kollegen das Besondere des Märchen Erzählens unter zu Hilfenahme von passenden Requisiten für unsere Arbeit entdeckten.
Warum Märchen besonders gut geeignet sind zur psychosozialen Ressourcenstärkung: fast jeder kennt sie, auch bei Demenzkranken sind diese häufig noch präsent. Erinnerungen an die eigene Kindheit werden wach, in den meisten Fällen sind das schöne Erinnerungen einer unbeschwerten Zeit. Vielleicht hat man gemütlich vor dem Kamin zusammen gesessen und der beruhigenden Stimme der Mutter oder des Vaters gelauscht; wer möchte nicht zurück in diese Erinnerungen? In der Fachsprache reden wir hier von sogenannter Biographiearbeit.
Das Ziel von Unvergessen
Nun möchte ich aber doch etwas mehr über das Projekt und den wissenschaftlichen Hintergrund erzählen. Dazu lasse ich gerne Sina Sander, unsere stellvertretende Leiterin des Fachbereiches „Lebenswelten“ und Verantwortliche unserer Pflegeprojekte, zu Wort kommen.
Sina, kannst du mir einmal genauer erläutern, was in diesem Projekt gemacht wird?
Sina Sander: „Unser Ziel mit dem Projekt Unvergessen ist es, dass das sogenannte „Aktivierende Märchen erzählen“ in den Einrichtungen Einzug erhält. Wenn wir es schaffen, dass die Märchenstunden fester Bestandteil werden, und sei es nur einmal im Monat, kommen wir unserem Ziel schon ein großes Stück näher. Nach einem ersten Austausch mit der Einrichtung sorgen exemplarische Märchenstunden in der Einrichtung für eine Einstimmung in die Thematik und ein erstes Kennenlernen.
Im Anschluss bilden wir ausgewählte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Pflegeeinrichtungen in Form einer dreitägigen Schulung aus. Diese Schulung und auch die exemplarischen Stunden werden von einer professionellen Märchenerzählerin, von unserer Kooperationspartnerin Sabine Meyer bzw. dem Erzähltheater Osnabrück, durchgeführt. Im Rahmen dieser Schulung erhalten die zukünftigen Märchenerzählerinnen und Märchenerzähler zum Beispiel Informationen, welche Märchen sich besonders eignen.
Die Wahl sollte weniger auf ein Märchen wie Hänsel und Gretel fallen, was häufig in der Kindheit schon Ängste ausgelöst hat. Wir wollen mit den Märchen bestenfalls nur positive Erinnerungen hervorrufen. Vielleicht haben sie diese Märchen auch ihren eigenen Kindern oder Enkelkindern vorgelesen. Auch Besonderheiten in der Mimik und Gestik beim Erzählen sowie der Aufbau einer Märcheneinheit werden thematisiert. Demenzerkrankte Pflegebedürftige stehen auch im Fokus der Schulung.”
Zeitreise mit Requisiten
“Während der Märchenrunde können sich alle austauschen: „Wie war es damals, in welcher Situation wurden die Märchen vorgelesen?“ Aber auch der Inhalt der Märchen und die Themen, die dort Bestandteil sind, sollen zum Austausch anregen. Nehmen wir das Beispiel Dornröschen. Hierbei geht es nicht primär darum das komplette Märchen von A bis Z zu erzählen und das war es dann. Hier kommt beispielsweise eine Spindel mit zum Einsatz, sie wird umhergereicht und über die damalige Handarbeit gesprochen. In den Märchenstunden werden also jeweils passende Requisiten eingesetzt, die zur Aktivierung beitragen.”
Nachhaltigkeit und Qualität
“Nach erfolgreicher Durchführung dieser dreitägigen Schulung sind die Beschäftigten befähigt, die Märchen aktivierend zu erzählen. Sie proben dies dann einige Wochen für sich in der Einrichtung und erhalten nach dieser Zeit erneut Unterstützung der Märchenerzählerin, indem diese bei den Märchenstunden hospitiert, Feedback gibt und Rede und Antwort steht. Das sichert die Qualität und Nachhaltigkeit.
Unsere Aufgabe im Rahmen dieses Projektes ist dann die Unterstützung bei der langfristigen Etablierung der Märchenstunden. Wir sprechen in einem abschließenden Termin über mögliche Hürden und deren Überwindung. Denn nach der Schulung soll es ja erst richtig losgehen und die Märchen fester Bestandteil werden. Häufig kommen vertiefende Schulungen zu bestimmten Themen zum Einsatz, als Beispiel möchte ich die Vertiefungsschulung „Märchen in der Sterbebegleitung“ nennen.
Alles in Allem hört sich das Projekt nicht nur schön an, es hat auch einen unglaublichen Mehrwert für die Menschen. Es entspricht dem Leitfaden und kann so von den Pflegekassen unterstützt werden.“
Vielen Dank Sina, für den ausführlichen Einblick in deine Arbeit und in unser Projekt „Unvergessen – Aktivierung durch Märchen“.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute…
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute…… heißt es am Ende eines jeden Märchens so schön. Dass das nicht passieren wird, wissen wir natürlich. Umso wichtiger ist die respektvolle Begleitung unserer Liebsten, in dem vielleicht schwersten und letzten Abschnitt ihres Lebens. Losgelöst davon ob eine Demenzerkrankung vorliegt oder nicht. Positive Erinnerungen können Ängste nehmen und Sicherheit spenden.
Lassen Sie uns gemeinsam diesen Abschnitt würdevoll gestalten. Vor allem in diesen herausfordernden Zeiten dürfen wir niemanden alleine und isoliert lassen.
Auf Pflege im Fokus finden Sie weitere Informationen zu “Unvergessen” und weiteren Pflegeprojekten.